Kreuzbandriss, Teil II: Ein halbes Jahr danach
In unserer Winter-Ausgabe #15, als die Sportwelt noch in Ordnung war, hatten wir uns ausführlich mit dem Thema Kreuzbandriss auseinandergesetzt. Die SPORTHEILBRONN-Stammleser erinnern sich: Eishockeyspielerin Annabella Sterzik, Handballerin Michelle Goos, Weitspringerin Anna Bühler und Ringer Julian Meyer hatten sich im Sommer bzw. Herbst 2019 das Kreuzband gerissen, während Kickboxerin Sarah Glandien knapp am Kreuzbandriss vorbeigeschrammt war, als ihr die Kniescheibe raussprang. Unser Redaktionsteam hatte sich im Januar gemeinsam mit den beiden Sportärzten Boris Brand und Nils Haupt mit den fünf SportlerInnen getroffen, um tiefgehende Blicke hinter die Verletzung werfen zu können. Wie geht es den Patienten mental? Welche beruflichen Auswirkungen kann eine solch schwerwiegende Verletzung haben? Diese Fragen hatten wir im Magazin-Beitrag beantwortet. Als wir damals am Ende der Talkrunde auseinander gegangen waren, lautete die einhellige Meinung: „In einem halben Jahr müssen wir uns wieder treffen, um zu sehen, wie es den Einzelnen weiter ergangen ist“. Diesen Wunsch der Gesprächsteilnehmer haben wir nun erfüllt – wenn auch unter erschwerten Bedingungen. Die SPORTHEILBRONN-Redakteure Ralf Scherlinzky und Enny Bayer haben sich Ende Juni in Frankenbach mit Annabella Sterzik, Sarah Glandien und Boris Brand getroffen. Anna Bühler, Julian Meyer und Nils Haupt waren per Skype zugeschaltet und Michelle Goos ließ aus Amsterdam telefonische Grüße an die Runde ausrichten. Den besonderen „Weg zurück“ unserer Kreuzband-Patienten haben wir auf diesen Seiten für euch aufbereitet…
Fotos: Marcel Tschamke, Michelle Goos (1)
Autor: Ralf Scherlinzky
Annabella Sterzik (16) – U18-Nationalspielerin Eishockey
Annabella Sterzik musste sich seit unserer Gesprächsrunde nicht nur um die Reha für ihr im September 2019 gerissenes Kreuzband kümmern. Zusätzlich stand für die 16-Jährige auch noch der Realschulabschluss an. „Ich habe morgens vor der Schule trainiert, hatte dann Unterricht, war mittags wieder trainieren und habe danach auf die Prüfung gelernt“, berichtet „Anni“ von ihrem Tagesablauf in den letzten Monaten. „Bis auf den etwas gewöhnungsbedürftigen Online-Unterricht hat mich Corona nicht allzu sehr getroffen. Wir hätten im Eishockey eh schon Pause gehabt und unser Sommertraining zuhause gemacht. Insofern lief alles fast wie gewohnt.“
Das verletzte Knie ist weitgehend verheilt, doch klagt die aus Kirchhausen stammende U18-Nationalspielerin noch über eine leichte Instabilität: „Beim Oberschenkel-Training knicke ich manchmal etwas zur Seite weg. Das bereitet mir etwas Sorgen, weil ich nicht weiß, inwieweit mich das dann auf dem Eis beim Bremsen behindern wird.“
Um hier einer erneuten Verletzung vorzubeugen, hat Annabella Sterzik nun eine Schiene zur Stabilisierung bekommen. Kreuzband-Spezialist Boris Brand erklärt: „Das Problem bei Anni ist, dass nicht nur ihr Kreuzband, sondern auch das seitliche Außenband gerissen war und dieses auch jetzt noch eine leichte Instabilität aufweist. Die Schiene, die sie jetzt zur Verstärkung bekommen hat, wird im Eishockey oft verwendet. Der Vorteil ist dabei, dass die Schiene unter der Ausrüstung getragen werden kann und die Sportler nicht behindert.“
Obwohl sie als Jüngste in der Runde eigentlich am meisten Zeit zur vollständigen Rehabilitation haben müsste, steht Anni Sterzik unter Zugzwang. Am 1. August 2020 zieht sie nach Berlin ans Sportinternat (siehe Seite 40) und könnte dort sofort zum ersten Mal seit September wieder aufs Eis gehen, um ihren Trainingsrückstand aufzuholen.
Vor allem der Kontakt zu Michelle Goos, die sich nach dem ersten Kennenlernen im Januar etwas intensiver um sie gekümmert hatte, hat sie enorm weiter gebracht. „Und wenn ich heute in Instagram sehe, wie Michelle und auch Sarah Bilder und Videos vom Training posten, motiviert mich das ungemein“, gesteht Annabella Sterzik ein.
Sarah Glandien (30) – K1-Weltmeisterin AFSO
Die schwere Knieverletzung vom September 2019 ist für Sarah Glandien eigentlich schon lange abgehakt. Klar, hin und wieder zwickt es an der einen oder anderen Stelle noch etwas und Wetterumschwünge machen sich auch das eine oder andere Mal bemerkbar. Aber das sind Lappalien gegenüber dem, was der Muay Thai Kickboxerin durch Corona widerfahren ist.
„Ich war ja im September aus Asien zurückgekehrt und hatte mir zwei Wochen vor meinem Karrierehighlight die schwere Knieverletzung zugezogen. Ein halbes Jahr lang konnte ich fast gar nichts machen, habe mich dann wieder rangekämpft und war auf den Punkt fit für meinen nächsten Fight am 14. März in Mainz. Am Tag davor – es war ironischerweise Freitag, der 13. – fuhren wir gerade auf die Autobahn in Richtung Mainz, als das Telefon klingelte. Der Veranstalter war dran und sagte mir, dass ich wieder umkehren könne, da er das Event wegen Corona absagen musste. Da hat es mir zum zweiten Mal innerhalb eines halben Jahres den Boden unter den Füßen weggezogen“, erzählt Sarah Glandien nachdenklich.
Durch diesen erneuten Tiefschlag fiel die 30-Jährige ein weiteres Mal in ein tiefes Loch: „Dazu kam, dass mein Partner in der Schweiz lebt und ich ihn während des Lockdowns nicht an meiner Seite hatte. Durch die Schließung unseres Gyms bei den Thaibulls fiel mit dem Training nicht nur mein Lebensinhalt weg. Da ich dort als Trainerin arbeite, hinterließ die Schließung zu allem Überfluss auch noch ein großes finanzielles Loch.“
Im ersten Moment war Sarah Glandien so demotiviert, dass sie alles hinschmeißen wollte. „Zwei Wochen lang wollte ich von nichts und niemandem etwas wissen, hatte keine Lust mehr mich zu quälen“, erinnert sie sich. „Dann habe ich langsam wieder mit Laufen begonnen, und als ich ein paar Wochen später zum ersten Mal wieder am Sandsack stand, da dachte ich, Mensch, irgendwie habe ich doch wieder Bock!“
Inzwischen ist sie wieder als Trainerin im Gym aktiv und fiebert auf den nächsten Kampf hin. „Ich stehe jeden Morgen um 5.30 Uhr auf, gehe laufen und mache Yoga. Danach fahre ich zur Arbeit und von dort direkt zum Gym. Damit fühle ich mich wohl, lege jedoch keinen allzu großen Wert mehr auf die Quantität des Trainings, sondern eher auf die Qualität“, beschreibt sie ihren Tagesablauf. Wann der nächste Kampf stattfinden wird, steht aktuell noch in den Sternen. Doch Sarah Glandien wäre nicht Sarah Glandien, würde sie sich nicht „so weit ready machen, dass ich innerhalb kürzester Zeit startklar bin.“ Das inzwischen genesene Knie spielt bei ihren Planungen kaum mehr eine Rolle.
Anna Bühler (23) – U23-Vizeeuropameisterin Weitsprung
Auch Anna Bühler ist nach ihrer Verletzung vom Juli 2019 fast wieder die Alte. Nachdem sie Anfang des Jahres bereits am Trainingslager auf Lanzarote teilgenommen und im Februar die Reha erfolgreich hinter sich gebracht hatte, wurde das Comeback der Forchtenbergerin durch Corona jäh gestoppt. „Von einem Tag auf den anderen mussten wir improvisieren. Trainingshallen und Krafträume waren gesperrt, wir konnten nur noch allein zuhause oder im Wald trainieren. Als dann auch noch Olympia und die Europameisterschaft abgesagt wurden, hingen wir total in der Luft. Das ist schon an die Psyche gegangen“, erzählt die Sportsoldatin.
Doch Anna Bühler blieb positiv und betrachtete die Pandemie für sich selbst als Chance, um vollständig gesund zu werden: „Eigentlich vertraue ich dem Knie, aber duch den Ausfall der ganzen Wettkämpfe kann ich ihm nun noch mehr Zeit zur vollständigen Genesung geben. Ich konnte seit 2016 durch diverse Verletzungen nie richtig fit in die Saison starten. Dieses Jahr muss ich mir nun keinen Stress machen, um möglichst schnell wieder Wettkämpfe zu bestreiten. Lieber kuriere ich alles vernünftig aus und feiere 2021 ein richtiges Comeback.“
Gemeinsam mit ihrem Trainer hat die für den VfB Stuttgart startende Weitspringerin beschlossen, 2020 keine Wettkämpfe mehr zu bestreiten – höchstens ein paar inoffizielle Tests im Rahmen des Trainings. „In diesem Jahr noch auf eine bestimmte Weite zu zielen oder gar Normen erfüllen zu wollen, würde eh nichts bringen, denn diese würden nicht anerkannt werden“, erklärt sie. „Seit dem Lockdown hat der Leichtathletik-Weltverband die Dopingkontrollen komplett ausgesetzt, wohl um seine Kontrolleure zu schützen. Dadurch hätte jetzt jeder über Wochen hinweg ungestraft dopen und sich zu Vorteilen gegenüber ehrlichen Athleten schummeln können. Deshalb werden Weiten, die in diesem Jahr erzielt werden, nicht offiziell anerkannt. Das ist auf der einen Seite verständlich und auch vernünftig, aber für die fitten und ‚sauberen‘ Athleten, die die Normen schaffen würden, ist es auf der anderen Seite extrem unfair.“
Hatte für die 23-Jährige noch im Januar die Gefahr bestanden, mangels übersprungener Normen ihren Sportförderplatz bei der Bundeswehr zu verlieren, so deutet gerade vieles darauf hin, dass sie aufgrund der aktuellen Umstände für ein weiteres Jahr beim „Bund“ bleiben kann. Als nächstes steht für Anna Bühler die Suche nach einem neuen Studienplatz für das Wintersemester auf dem Plan.
Julian Meyer (28) – DM-Dritter Ringen
Julian Meyer war unter unseren Gesprächsteilnehmern vom Januar derjenige, der in Sachen Kreuzband wohl die größte Odyssee hinter sich gebracht hatte. Während seiner inzwischen zweieinhalbjährigen Leidenszeit musste er gleich vier Operationen an seinem verletzten Knie über sich ergehen lassen. Deshalb war es nun umso erstaunlicher, dass der bisherige Bundesliga-Ringer der RED DEVILS Heilbronn auf der großen Leinwand der Gaststätte „zum Reegen“ guten Mutes verkündete, dass es seinem Knie „soweit richtig gut“ gehe.
Nach dem intensiven Austausch im Januar hatte er sich mit Boris Brand getroffen, der mit ihm gemeinsam zum Physiotherapeuten ging, um ein Trainingskonzept mit entsprechendem Plan auszuarbeiten. „Für meine Rehazeit war das Gold wert. Ohne diesen Schritt wäre es noch bei weitem nicht so gut, wie es jetzt ist“, so der Freistil-Spezialist, der inzwischen seine aktive Karriere in der Bundesliga beendet und sich als Trainer seinem Stammverein Aalen angeschlossen hat.
„Mit diesem Schritt ist der ganze Druck von mir abgefallen, dass ich auf einen bestimmten Punkt fit sein muss. Seither geht es mir auch psychisch viel besser, da ich mir keine Gedanken mehr machen muss, ob ich vier Wochen früher oder später wieder auf der Matte bin. Seit kurzem kann ich jetzt wieder ganz normal joggen gehen, ohne dass das Knie zwickt. Nur den letzten Schritt auf die Matte, den habe ich noch nicht gemacht.“
„Julian ist das beste Beispiel dafür, wie wichtig auch in der Nachbetreuung das Zusammenspiel zwischen Arzt, Physiotherapeut und Patient ist. Er war lange Zeit allein gelassen worden und dadurch immer nur auf der Stelle getreten. Kaum haben wir ihn an die Hand genommen, konnte er seine Defizite aufholen und ist jetzt fast beschwerdefrei“, betont Sportarzt Nils Haupt die Vorteile einer ganzheitlichen ärztlichen Betreuung.
Michelle Goos (30) – Handball-Nationalspielerin
Michelle Goos ist der selbst ernannte „Profi“ unter unseren Kreuzband-Patienten. Ein knappes halbes Jahr, nachdem sie von ihrem ersten Kreuzbandriss genesen war, hatte es die Olympia-Vierte von Rio im November 2019 zum zweiten Mal erwischt – für die 30-Jährige damals das wahrscheinliche Ende ihrer Träume von der Teilnahme an den Olympischen Spielen in Tokio. Doch wurde die Olympia-Verschiebung auf 2021 vielleicht sogar zur Chance für eine vollständig genesene Michelle Goos, um doch teilnehmen zu können? „Nein“, bedauert die holländische Nationalspielerin. „Mein Vertrag bei der Neckarsulmer Sport-Union wurde nicht verlängert und ich spiele jetzt wieder bei meinem Stammverein VOC Amsterdam. Wir trainieren hier in der ersten holländischen Liga zwar genauso viel wie in der Bundesliga, verdienen damit aber leider kein Geld. Und ob die in der Nationalmannschaft eine Amateurspielerin mit nach Tokio nehmen wollen, wenn alle anderen in den Topligen in Deutschland, Dänemark, Frankreich und Ungarn als Profis unterwegs sind, das bezweifle ich.“
Noch ist ihr Knie auch nicht zu hundert Prozent genesen. „Beim Krafttraining habe ich keine Probleme“, berichtet sie, „aber Sprints bereiten mir noch Schmerzen. Bevor die nicht weg sind, spiele ich kein Handball.“
Obwohl über 500 Kilometer zwischen ihnen liegen, wird Michelle Goos auch weiterhin von ihrem bisherigen Neckarsulmer Teamarzt Boris Brand betreut. Der ist im regelmäßigen Austausch mit ihrem holländischen Physiotherapeuten und freut sich auf Michelles Besuch Mitte August zum „Back to play“-Test. „Ich glaube, sie ist topfit und braucht das eigentlich gar nicht“, schmunzelt der Orthopäde, „aber für den Kopf ist es gut und die Berufsgenossenschaft freut sich auch, wenn sie einen Stempel bekommt.“
Sobald sie von Boris Brand das „Go“ bekommt, wird Michelle Goos wieder als Linksaußen auf die Platte zurückkehren – als „Mama“ in einem Team, in dem sie mit Abstand die älteste Spielerin ist. „Ich spiele dann mit den Mädels zusammen, die ich früher als Kinder trainiert hatte und mit deren Müttern ich einst zusammen im Team stand“, lacht sie.
Seit kurzem arbeitet Michelle Goos in Amsterdam 45 Stunden pro Woche als Personal Trainerin – eine Arbeit, die ihr Spaß macht und die sie auch nach dem Ende ihrer Karriere weiter ausüben möchte. Im September steht dann das nächste persönliche Highlight an: Die Hochzeit mit ihrem Verlobten Koen, die aufgrund der Corona-Pandemie nicht wie geplant im Juni stattfinden konnte.