SELGROS „Stille Helden des Heilbronner Sports“: Marco Künzel (HSG Heilbronn): „Der Sport hat mir das Leben gerettet“

Ende 2020 machte uns Matthias Künzel, Leiter der Handballspielgemeinschaft Heilbronn und langjähriger Begleiter des SPORTHEILBRONNMagazins, auf die Geschichte seines Cousins Marco Künzel aufmerksam. „Marco war schwer an Leukämie erkrankt, hat sich nach langem Krankenhausaufenthalt und vielen Rückschlägen ins Leben zurückgekämpft und gehört jetzt wieder zu den Leistungsträgern unseres Bezirksliga- Handballteams“, berichtete er uns. Klingt nach einem wahren stillen Helden, dachten wir uns und haben uns mit dem 30-Jährigen getroffen.

Fotos: Achim Gehrig / privat

Autor: Ralf Scherlinzky

5. Mai 2021

„Es fing im vorletzten Handballspiel der Saison 2017/18 an. Ich hatte Schmerzen an der Leiste und dachte an eine Überbelastung aus der langen Saison. Wenig später kamen nachts Schweißausbrüche dazu, und wenn es im Training Körperkontakt gab, hatte ich ungewöhnlich viele blaue Flecken“, erinnert sich Marco Künzel an die Vorboten seiner Krankheit. Als wir dann im Juni 2018 mit der Vorbereitung auf die nächste Saison begonnen haben, bekam ich beim Warmmachen Herzrasen und Atemnot. Am darauf folgenden Tag bin ich die Treppen ins Büro kaum mehr hochgekommen. Da wusste ich, irgendwas stimmt nicht.“

Am nächsten Morgen ging der Leingartener zum Blutabnehmen zu seinem Hausarzt. Wenige Stunden später erhielt er telefonisch die Nachricht, dass er sich unverzüglich in die Heilbronner SLK-Klinik begeben soll und dort schon alles vorbereitet sei. Worum es geht, durfte ihm die Anruferin nicht sagen. Auch im Krankenhaus wurde er noch einige Zeit im Ungewissen gelassen, bis er gegen Abend mit der Diagnose konfrontiert wurde. Er hatte Leukämie.

„Ich kann mich noch genau erinnern: Es war der 15. Juni 2018. Meine Mutter hatte Geburtstag und alle saßen zuhause und haben auf mich gewartet. Als ich kurz vor dem Gespräch mit dem Arzt in meiner Akte die Diagnose Leukämie las, bin ich davon ausgegangen, dass das mein Todesurteil sei und ich mit 27 Jahren sterben würde“, erinnert sich der passionierte Handballspieler.

Schon bei der Einweisung in sein Krankenzimmer wurde ihm die erste Chemotablette verabreicht. „Es war eine akute Leukämie und ohne Behandlung hätte es sein können, dass mein Herz die Krankheit zwei Wochen später nicht mehr hätte verarbeiten können.“

Nach zahlreichen Untersuchungen in den Folgetagen war klar, dass es sich um eine in den meisten Fällen gut heilbare T-Zell-ALL (Akute Lymphatische Leukämie) handelt. „Als ich das Wort heilbar gehört habe, hat sich bei mir ein Schalter umgelegt und ich habe in den Kampfmodus geschaltet. Hilfreich war dazu auch noch, als man mir sagte, dass ich nur drei Monate behandelt werden müsse. Dass sich die drei Monate nur auf den ersten Chemo-Block bezogen haben und die Therapie in Wahrheit zweieinhalb Jahre gehen sollte, habe ich erst mitbekommen, als sich eine Krankenschwester zufällig versprochen hatte. Das hat mir den nächsten Tiefschlag verpasst“, erzählt Marco Künzel, dessen Leben sich fortan in der SLK-Klinik abspielte.

Die ersten sechs Monate kämpfte der Projektleiter eines Unternehmens aus der Automobilbranche mit viel Power gegen seine Krankheit an. Immer an seiner Seite stand dabei seine Verlobte Jennifer Lang. Sie ließ sich von ihrem Arbeitgeber freistellen und zog mit in sein Krankenzimmer ein. „Jenny hat mir so unheimlich viel Kraft gegeben, das kann man nicht in Worte fassen. Man muss sich das vorstellen: Eine 26-jährige Frau hält quasi ihr Leben an, um sich um einen Todkranken zu kümmern“, schwärmt er mit einem Glänzen in den Augen.

Dazu hatte er das Privileg, im Physiozentrum der Klinik trainieren zu können. Zu verdanken hatte er dies seinem damaligen Handballtrainer Günter Langlitz, der dort als Physiotherapeut arbeitete. „Er kam fast jeden Abend nach Feierabend auf mein Zimmer und hat mich ermutigt zu trainieren. Auf sein Anraten habe ich mich täglich 50 Minuten aufs Fahrrad gesetzt. Die gute körperliche Konstitution, die ich mir dort beim Sport erarbeitet habe, hat mir später das Leben gerettet.“

Nach sechs Monaten schlugen die Nebenwirkungen der Chemotherapie bei Marco Künzel dann doch noch gnadenlos zu: „Ich bin von 75 auf 49 Kilogramm abgemagert, mir sind alle Haare ausgefallen. Meine Schleimhäute waren weg, im Mund hatte ich nur noch offene Stellen und ich hatte Schmerzen, wenn ich auf die Toilette gehen musste. Um wenigstens etwas Nahrung zu mir nehmen zu können, wurde ich unter Morphium gesetzt – das war ein Teufelskreis, dem ich scheinbar nicht mehr entkommen konnte.

Umso schmerzlicher war dieser Zustand für Marco Künzel, weil die Chemotherapie die Leukämie eigentlich schon nach zwei Monaten aus seinem Körper vertrieben hatte. Er begann, den Therapieplan zu hinterfragen. „Wieso wird mein Körper weiterhin mit so vielen Chemikalien vollgepumpt, wenn doch der Blutkrebs vertrieben ist und mich das alles noch viel kranker macht?“, fragte er die Ärzte und erhielt jedesmal das Wörtchen „prophylaktisch“ als Antwort.

Nach einer Aktualisierung seines Behandlungsplans wurden seinem geschundenen Körper dann tatsächlich die letzten Chemoblöcke erspart und er wurde noch vor Weihnachten nach Hause entlassen.

Er war auf dem Weg der Besserung, doch dann begann im März 2019 der zweite Teil seines Leidensweges, der mit der ursprünglichen Leukämie eigentlich nichts mehr zu tun hatte. „Ich habe mir einen Spreißel an der Hand eingefangen, den mein immer noch angeknackstes Immunsystem nicht abwehren konnte. Mit Blutvergiftung, Lungenentzündung und Nierenversagen kam ich in die Intensivstation. Meine Werte waren hinüber, ich war nicht ansprechbar und musste an die Dialyse. Um meinen Blutdruck hoch zu halten, haben sie mir so viel Flüssigkeit zugeführt, dass mein Gewicht vor lauter Wasser auf 90 Kilogramm hoch ging. Das war eine sehr gefährliche Situation und sie wollten mich schon ins künstliche Koma versetzen“, berichtet er. „Ich habe mir geschworen, wenn ich das überlebe, breche ich alle Behandlungen ab, verlasse das Krankenhaus und blicke nie mehr zurück.“

Nach zwei Wochen durfte Marco Künzel die Intensivstation wieder verlassen. Vor lauter Wassereinlagerungen konnte er kaum noch gehen, hatte schwere Atemnot und konnte fast nichts mehr sehen. Als er dann wieder halbwegs selbständig gehen konnte, setzte er Mitte April 2019 sein Vorhaben um und entließ sich selbst aus dem Krankenhaus: „Ich war zwar immer noch total geschwächt, aber mein Körper hat mir signalisiert, dass ich eigentlich gesund bin. Von der Schulmedizin bin ich dann auch auf Homöopathie umgestiegen, was mir extrem geholfen hat.“

Statt in ein Rehazentrum zu gehen, arbeitete er mit dem Cousin seiner Freundin, Nico Lang, einen Ernährungs- und Trainingsplan aus und begann in dessen Studio Sporthalle Massenbachhausen zu trainieren. Monatelang war er an fünf bis sechs Tagen pro Woche zum Training dort und päppelte sich selbst wieder auf.

„Nach drei Monaten war ich bei meinem Normalgewicht angekommen und habe mich so fit gefühlt, dass ich mal wieder beim Handball vorbeigeschaut habe. Ich dachte ich probier‘s nochmal und stellte schnell fest, dass ich fitter war als die komplette erste Herren-Mannschaft der HSG“, schmunzelt Marco Künzel. Bei einem Trainingsspiel schlug er so gut ein, dass ihn der Coach gleich für die ganze Runde verpflichtete. In der Saison 2019/20 gehörte er zu den Topspielern seines Teams. „Inzwischen“, sagt er mit einem Augenzwinkern, „habe ich sogar Angebote von höherklassigen Teams bekommen. Aber natürlich bleibe ich bei der HSG bzw. beim SV Heilbronn am Leinbach – denn das ist mein Verein. Dort bin ich Mitglied, seit ich ein Jahr alt war.“

Eines gibt uns unser „Stiller Held“ zum Abschluss unseres Gesprächs noch mit auf den Weg. Er würde gerne andere Leukämie-Patienten mit seinen Erfahrungen und Tipps unterstützen. „Um hier jemandem helfen zu können, nehme ich auch gerne mal einen Tag Urlaub von der Arbeit“, sagt er.

So spricht ein wahrer Held, Marco! Betroffene oder ihre Familien, die Kontakt zu Marco Künzel aufnehmen möchten, können sich gerne per Mail bei unserem Chefredakteur Ralf Scherlinzky unter ralf@winwinsport.de melden.