Perfektionismus im Sport – Fluch oder Segen?

Bestimmte Lebensbereiche sind wie geschaffen dafür, sich höchste Maßstäbe zu setzen, ehrgeizige Ambitionen zu formulieren und letztlich nach Perfektion und Fehlerlosigkeit zu streben. Es ist naheliegend, dass das „Höher – Schneller – Weiter“ des modernen Leistungs- und Spitzensports ein Feld ist, in dem ein Perfektionsstreben geradezu als Erfolgsvoraussetzung diskutiert wird. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen Perfektionismus vollzieht sich innerhalb der Sportpsychologie seit etwa 20 Jahren. Auf der einen Seite werden die Vorzüge dieser Persönlichkeitsdisposition hinsichtlich des Erreichens von Höchstleistungen hervorgehoben, auf der anderen Seite werden die negativen Facetten des Optimierungsstrebens diskutiert. 

Autor: Prof. Dr. Dirk Schwarzer

31. Januar 2020

Duale Hochschule BW Heilbronn / Studiengangleiter im Studiengang BWL-Dienstleistungsmanagement/Sportmanagement (seit 2011). Sportpsychologische Beratung und Betreuung von Leistungs- und Spitzensportlern (darunter auch Olympiateilnehmer). Mitglied der Arbeitsgemeinschaft für Sportpsychologie in Deutschland (asp). Mitglied im Lehr-Team des Deutschen Tennisbundes e.V. Sportlicher Leiter beim Tennis-Weltranglistenturnier INTERSPORT Heilbronn-
Open von 2005 bis 2014.

Bestimmte Lebensbereiche sind wie geschaffen dafür, sich höchste Maßstäbe zu setzen, ehrgeizige Ambitionen zu formulieren und letztlich nach Perfektion und Fehlerlosigkeit zu streben. Es ist naheliegend, dass das „Höher – Schneller – Weiter“ des modernen Leistungs- und Spitzensports ein Feld ist, in dem ein Perfektionsstreben geradezu als Erfolgsvoraussetzung diskutiert wird. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen Perfektionismus vollzieht sich innerhalb der Sportpsychologie seit etwa 20 Jahren. Auf der einen Seite werden die Vorzüge dieser Persönlichkeitsdisposition hinsichtlich des Erreichens von Höchstleistungen hervorgehoben, auf der anderen Seite werden die negativen Facetten des Optimierungsstrebens diskutiert.
Der Perfektionismus ist vielschichtig, er zeigt sich in unterschiedlicher Form und Ausprägung. Ganz wertneutral betrachtet – in diesem Sinne nicht pathologisch – bedeutet Perfektionismus die Überzeugung einer Person, dass perfekte Zustände existieren und man versuchen sollte, diese zu erreichen. Das Streben nach Perfektion richtet sich in aller Regel auf die eigene Person (1): „Sowohl im Training als auch im Wettkampf habe ich extrem hohe Erwartungen an mich selbst“. In einer anderen Ausprägung fühlen sich Athletinnen und Athleten zum Perfektionismus gedrängt, da sie meinen, relevante andere Personen haben extrem hohe Ansprüche an sie, die es zu erfüllen gilt (2): „Mein Coach (bzw. meine Eltern oder die Teammitglieder) sind unzufrieden mit mir, wenn ich keine Top-Leistung abliefere“. Darüber hinaus kann sich der Perfektionismus als eine auf andere Menschen gerichtete, vorwurfsvolle Variante offenbaren (3): „Ich kann es nicht ertragen, wenn meine Mannschaftskameradinnen Fehler machen“.
Pures Perfektionsstreben ist allerdings noch nicht klinisch bedeutsam. Problematisch wird es jedoch, wenn hohe Ansprüche an sich oder andere als extrem, übertrieben, unvernünftig angesehen werden können und ein starres Festhalten an unrealistischen Maßstäben trotz hoher „Kosten“ zu beobachten ist. Darüber hinaus enthält ein perfektionistischer Persönlichkeitsstil mit dem erfolgsabhängigen Selbstwert ein risikoreiches Element: Wenn eine Athletin oder ein Athlet in die Gesamtbeurteilung der eigenen Person nichts anderes als das Erreichen der gesetzten sportlichen Ziele und die damit verbundene Anerkennung durch andere Menschen (Zuschauer, Journalisten, Eltern, Sponsoren, Trainer etc.) miteinfließen lässt, so verengt sich das Spektrum an möglichen Quellen des Selbstwertes auf ein ausgesprochenes Minimum. Das Ausbleiben des sportlichen Erfolgs führt dann häufig zu einer abwertenden Selbstbeurteilung, in der man sich als generellen „Versager“ und als wertlosen Menschen eben auch in anderen Rollen und Lebensbereichen sieht: als Freund, Bruder, Vater, Kollege etc.: „Ich muss im Sport perfekte Leistungen zeigen – erst dann bin ich o.k., erst dann bin ich ein guter Mensch“.
Bei erfolgsabhängigem Selbstwert geht es in der Zusammenarbeit mit Athletinnen und Athleten darum, den eigenen Selbstwert „geschickter bewirtschaften“ zu lernen (Spitzer 2016, S. 142). Beispielsweise lässt sich in einer sogenannten Tortengrafik schön veranschaulichen, welche anderen Lebensbereiche und Selbst-Facetten die eigene Person ausmachen und welchen Anteil sie für die Selbstbeurteilung haben (könnten). Der Weg geht hin zu der Erkenntnis: „Ich bin mehr als nur mein Sport“.
Gerade in technisch-kompositorischen Sportarten (z.B. Geräteturnen, Rhythmische Sportgymnastik, Eiskunstlauf, Wasserspringen), in denen eine perfekte Bewegungsausführung einen zentralen Faktor darstellt, können perfektionistische Tendenzen seitens der Sportlerinnen und Sportler durchaus hilfreich sein und die sportliche Leistung fördern. Das gleiche gilt für Sportarten, in denen Material und Technik eine gewichtige Rolle spielen. Vielleicht erinnern Sie sich noch an den Rennrodler Georg Hackl, genannt „Hackl Schorsch“, eine Legende des Wintersports: Fünf olympische Medaillen, zahlreiche Weltcupsiege und Deutsche Meisterschaften zählen zu seinen Erfolgen. Er war bekannt für seine akribische Arbeit am Material im Kampf um die siegbringende Tausendstelsekunde.
Fluch und Segen, beides kann dem Perfektionsstreben im Sport zugeschrieben werden. Die negativen, mitunter klinisch relevanten Seiten äußern sich in Form von chronischer Unzufriedenheit, Grübeleien, hartnäckigem Aufschieben von Entscheidungen, Versagensangst, Wutausbrüchen, Frustration, nachlassender Motivation bis hin zu Burnout, Depression, Zwangs- und Essstörungen sowie Suchtverhalten.
Die positiven Seiten des (neutralen) Optimierungsstrebens können darin gesehen werden, die Vollendung der eigenen Talente und Fähigkeiten zu befördern und somit das Erreichen sportlicher Höchstleistungen wahrscheinlicher zu machen. Letztlich ist es eine Gratwanderung – Oliver Stoll (2010, S. 85) bringt es mit folgender Aussage auf den Punkt: „Dies lässt nun abschließend den Schluss zu, dass Perfektionismus per se auch im Sport nicht leistungsmindernd sein muss. Gleichwohl scheinen Athletinnen und Athleten, die einerseits hohe perfektionistische Bestrebungen haben, jedoch gleichzeitig stark negative Emotionen entwickeln, wenn sie ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht werden, im Nachteil zu sein, es sei denn, sie lernen adäquat mit ihren Emotionen umzugehen, d.h. den Stress adäquat und funktional zu bewältigen“.
Literatur:
Spitzer, N. (2016). Perfektionismus und seine vielfältigen psychischen Folgen. Ein Leitfaden für Psychotherapie und Beratung. Berlin, Heidelberg: Springer Verlag.
Stoll, O. (2010). Trainingsverfahren zur Leistungsoptimierung auf der Basis von Emotion und Motivation. In: Stoll, O./Pfeffer, I./Alfermann, D. (2010). Lehrbuch Sportpsychologie. Bern: Verlag Hans Huber, S. 63-95.
Stoeber, J., Stoll, O., Salmi, O., Tiikaja, J. (2009). Perfectionism and Achievement Goals in Young Finnish Ice-Hockey Players. Aspiring to Make the U16 National Team. In: Journal of Sports Sciences, 27, S. 85-94.