Inklusion auf großer Bühne – Special Olympics World Games in Berlin

Vom 17.-25. Juni fand in Berlin mit den Special Olympics Weltspielen das größte Multisportevent in Deutschland seit den Olympischen Spielen 1972 statt. Mehr als 330.000 Fans, knapp 20.000 Volunteers, fast 7.000 Athletinnen und Athleten aus 176 Nationen sowie 1.200 Schiedsrichterinnen und Schiedsrichter waren in die Bundeshauptstadt gereist, um in 26 Sportarten um insgesamt 4.002 Medaillen zu kämpfen. Allein zur Eröffnungsfeier im Berliner Olympiastadion waren über 50.000 Zuschauer gekommen. Millionen verfolgten das Großevent live von zuhause – und wurden Zeugen, wie Ralf Andrasch als Vertreter aller Athleten den Special Olympics Eid „Ich will gewinnen, doch wenn ich nicht gewinnen kann, so will ich mutig mein Bestes geben!“ in den Berliner Nachthimmel schmetterte. Der 32-Jährige war Teil einer Delegation der Behindertensportgemeinschaft Neckarsulm, die mit ihren neun Sportlerinnen und Sportlern gleich 13 Medaillen für Deutschland gewinnen konnten. Nach den Weltspielen haben wir uns mit den BSG-Stars getroffen, um viele spannende Geschichten aus Berlin zu hören, die wir den SPORTHEILBRONN-Lesern an dieser Stelle gerne weitererzählen möchten.

Autor: Ralf Scherlinzky

12. August 2023

Das erfolgreiche BSG-Team (von links): Bettina Daurer, Inna Amirov, Ralf Andrasch, Elvira Amirov, Ömer Cümen, Rozaliya Kudheeda, Thorsten Lux, Salih Ismail Yalcin, David Sanzenbacher, Mert Karaman, Heike Acker.

Foto: marcferdinandkoerner.de

„Ich habe meinen Klassenkameraden per WhatsApp ein Selfie mit Bundeskanzler Olaf Scholz geschickt. Die haben ganz schön gestaunt“, grinst David Sanzenbacher. Doch das Foto mit dem Regierungschef ist bei weitem nicht die einzige Trophäe, die der 16-Jährige von den Weltspielen mit nach Hause brachte. Das jüngste Mitglied des BSG-Schwimmteams hatte auch noch drei Bronzemedaillen über 50m Schmetterling, 50m Freistil sowie in der 4 x 50m Lagen-Staffel mit im Handgepäck. Dass es über die Freistil-Distanz „nur“ Bronze wurde, hatte David Sanzenbacher zuerst mächtig geärgert: „Mir hat nur eine Hundertstelsekunde auf Platz zwei gefehlt. Das war ärgerlich. Aber als ich die Medaille in der Hand hatte, war das schnell vergessen.“

Die Staffel-Medaille teilte er sich mit seinem Trainingspartner Salih Ismail Yalcin von der BSG Neckarsulm, der erzählt: „Wir haben unser Bestes gegeben und konnten hinter Kanada und Dänemark gemeinsam die Bronzemedaille gewinnen.“

Können normalerweise kein Wässerchen trüben, schwimmen im Becken aber allen davon: Elvira und Inna Amirov holten zusammen vier Goldmedaillen und gewannen einmal Silber.

Foto: Special Olympics / Sarah Rauch

Wie die beiden Männer waren auch Elvira und Inna Amirov zum ersten Mal bei Special Olympics Weltspielen am Start. Die 21-jährigen Zwillinge wurden ihrer Favoritenrolle mehr als gerecht und gewannen zusammen fünf Medaillen – viermal Gold und einmal Silber.

Dabei ragte vor allem Elvira Amirov heraus, holte sie doch über 25m Brust und 50m Brust mit jeweils einem Abstand von fast einer Sekunde die Goldmedaille. Ihr drittes Mal Gold war eine Gemeinschaftsproduktion mit ihrer Schwester Inna und zwei weiteren deutschen Schwimmerinnen, die in der Staffel über 4 x 50m Lagen ihren Gegnerinnen auf und davon schwammen.

Anfänglich vom Pech verfolgt war Inna Amirov, die im Finale über 25m Freistil passen musste: „Ich war erkältet, hatte Halsschmerzen und konnte deshalb nicht starten. Das war ein echt blöder Zeitpunkt. Am nächsten Tag ging es mir dann wieder besser. Da habe ich zuerst meine Silbermedaille über 50 Meter Rücken und dann zusammen mit Elvira Gold in der Staffel gewonnen.“

Als Schwimmerin war ursprünglich auch Rozaliya Khudeeda für die Weltspiele gemeldet – jedoch wäre sie nur Ersatz gewesen für den Fall, dass eine Kader-Schwimmerin ausfällt. Glücklicher Zufall für die 16-Jährige: In der Fußball-Nationalmannschaft war wenige Wochen vor dem Großevent eine Spielerin ausgefallen, weshalb sie gefragt wurde, ob sie sich auch vorstellen könnte, in Berlin Fußball zu spielen. Sie sagte begeistert ja und konnte beim Trainingscamp in Herzogenaurach so überzeugen, dass sie gleich als Stammspielerin in das Berliner Turnier ging.

„Roza ist für mich die Entdeckung der Weltspiele. Sie war auf dem Spielfeld rechts hinten mehr als präsent, grätschte die Bälle weg und trug sich sogar auch noch einmal in die Torschützenliste ein“, schwärmt die BSG-Vorsitzende Heike Acker von ihrer Athletin, die mit Team Deutschland die Bronzemedaille gewann. Dass Rozaliya („Fußball gefällt mir, aber Schwimmen gefällt mir besser“) künftig lieber wieder ins Wasser zurück möchte, schmeckt der Fußballtrainerin Acker dagegen weniger, wie sie mit einem Augenzwinkern verrät…

Historisches schaffte das deutsche Unified-Fußballteam mit dem Gewinn der Bronzemedaille. „Noch nie zuvor hat eine deutsche Unified-Mannschaft bei Weltspielen eine Medaille geholt“, weiß Torspieler Ralf Andrasch. „Das war absolutes Topniveau, wir haben gute Werbung für den Unified-Fußball gemacht und wurden am Ende als ‚Sieger der Herzen‘ gefeiert.“

Was Unified bedeutet, erklärt Heike Acker: „Das Unified-Team besteht aus sieben Spielern – vier mit und drei ohne geistige Beeinträchtigung. Unsere Unified-Partner waren tolle junge Kerle aus der U17-Mannschaft des VfR Heilbronn. Während der Weltspiele sind sie mit unseren Jungs zu einer Einheit zusammengewachsen.“

„Das hat echt super geklappt, wir haben uns zum Teil sogar die Hotelzimmer geteilt und haben auch allgemein nacheinander geschaut“, berichtet BSG-Spieler Mert Karaman. Sein Teamkollege Thorsten Lux betont, dass bereits das gemeinsame Trainingslager im Vorfeld in Portugal das Team zusammengeschweißt hat. „Das hat man besonders beim 5:3-Sieg in der Vorrunde gegen Korea gespürt. Da haben wir richtig gut als Team gespielt und gekämpft. Das war unser bestes Spiel und mein persönliches Highlight“, so Thorsten Lux.

„Ich kriege immer noch Gänsehaut, wenn ich an die Eröffnungsfeier denke“, schwärmt Ömer Cümen. „Kurz vor dem Einlaufen ins Stadion haben wir im Tunnel alle ‚Germany, Germany‘ gerufen, das war eine unglaubliche Stimmung. Und kurz davor haben wir noch den Basketball-Star Dirk Nowitzki getroffen. Wow, der ist ganz schön groß“, lacht der 36-jährige „Team-Senior“.

Besonders wird die Eröffnungsfeier jedoch Ralf Andrasch in Erinnerung bleiben. Der 32-Jährige wurde unter den fast 7.000 teilnehmenden Athletinnen und Athleten auserkoren, vor der Weltöffentlichkeit den Special Olympics Eid zu sprechen. „Eigentlich war ich gar nicht wirklich nervös, sondern eher angespannt. Ich hatte mir den Text immer wieder vorgesagt, damit ich ihn nicht vergesse, auch wenn er nicht wirklich lang war. Auf diesen Moment am Mikrofon hatte ich wochenlang hingefiebert, und dann war er nach ein paar Sekunden schon vorüber, das ging ruckzuck“, erinnert sich der Athletensprecher.

„Es war fantastisch, das alles zu erleben – und dann auch noch in unserem eigenen Land. Dass die Nation so hinter uns stand, die Presse so ausführlich über uns berichtet hat und wir Sportler so viele Interviews geben durften, war auch etwas ganz Besonderes. Das kannten wir so bisher noch nicht.“

Ralf Andraschs Auftritt bei der Eröffnungsfeier wurde in sämtlichen Medien ausgestrahlt – hier inder ARD Tagesschau.

Einziger Wermutstropfen war für die Athletinnen und Athleten, dass sich Schwimmer und Fußballer bei den Weltspielen nicht gegenseitig anfeuern konnten. „Das war zeitlich schlichtweg nicht machbar“, erklärt Bettina Daurer, die die Schwimmer vor Ort betreute. „Wir sind jeden Morgen um sechs Uhr aufgestanden und waren ab acht bis abends in der Schwimmhalle. Da blieb einfach keine Zeit, um noch zu den Fußballplätzen zu gehen – zumal wir dann abends auch platt waren.“

Auch Heike Acker schaffte es nur einmal kurz zur Siegerehrung in die Schwimmhalle. „Wir hatten mit dem Unified-Team jeden Tag ein Spiel und ich hatte noch ein paar andere Aufgaben, wie zum Beispiel die verschwitzten Trikots zu waschen“, berichtet die rührige Organisatorin. „Aber Bettina hat mich über unsere WhatsApp-Gruppe immer topaktuell auf dem Laufenden gehalten.“

Ihren persönlichen Weltspiele-Moment hatte die 60-Jährige bereits beim Einlaufen zur Eröffnungsfeier. „Ich bin mit dem deutschen Team auf der Außenbahn einmarschiert. Da kam aus dem Nichts ein Mädel mit Down-Syndrom auf mich zugerannt, nahm mich in den Arm, heulte ohne Ende und sagte ständig danke danke danke. Ich habe keine Ahnung, wer das war, aber genau das sind die Special Olympics Momente, die man sonst nirgends erlebt“, so Heike Acker. Zu Tränen gerührt war die BSG-Vorsitzende auch bei der Rückkehr aus Berlin, als am Heilbronner Hauptbahnhof ein rund 60-köpfiges Empfangskommando auf das erfolgreiche BSG-Team wartete und Heike Acker mit „Heike, Heike“-Sprechchören feierte.

KAMPF UM INKLUSION UND ANERKENNUNG GEHT WEITER

Die BSG Neckarsulm ist inzwischen wieder aus dem medialen Fokus in die „Normalität“ zurückgekehrt. Diese besteht für die Verantwortlichen aus dem täglichen Kampf um öffentliche Aufmerksamkeit und finanzielle Mittel, um den Sportlerinnen und Sportlern auch weiterhin das bieten zu können, was sie am meisten benötigen: Inklusion und Anerkennung. Heike Acker spricht bildlich: „In Berlin wurde inzwischen wieder alles abgebaut, was auf die Weltspiele schließen ließ. Jetzt hoffen wir, dass sie beim Abbau vielleicht doch etwas haben stehenlassen, was sich Inklusion nennt und auf das wir aufbauen können.“

Während sich die mediale Berichterstattung inzwischen schon wieder anderen, vermutlich besser vermarktbaren Sportarten und Events zugewendet hat, steckt die BSG Neckarsulm mitten in der Vorbereitung für weitere Wettkämpfe und Ereignisse. Heike Acker verrät: „Mit unseren jungen Schwimmern wollen wir einen neuen Weg einschlagen und über den Sommer an paralympischen Schwimmwettkämpfen teilnehmen. Das Ziel ist, sich mit Konkurrenten zu messen, die keine mentale, sondern eine körperliche Beeinträchtigung haben, um einfach auch mal andere Perspektiven zu sehen. Im Unified Fußball werden wir künftig mit ‚Anpfiff ins Leben‘ und dem FC Union Heilbronn kooperieren und eine neue Freizeitmannschaft aufbauen. Dazu wird es eine neue Sportgruppe von acht bis 80 Jahren geben, in der wir einfach nur den Spaß am Sport fördern.“

Im November soll in Heilbronn im Rahmen der europäischen Basketballwoche ein dreitägiges Event stattfinden – und dann steht im Februar mit den nationalen Special Olympics Winterspielen in Oberhof schon das nächste sportliche Großereignis an. „Die Teilnahme dort wird uns für An- und Abreise, Unterkunft und Verpflegung für rund 25 Personen und sieben Tage wieder eine stolze fünfstellige Summe kosten. Um diese finanzielle Herausforderung stemmen zu können, sind wir auf Spenden und Sponsoring angewiesen. Und dafür brauchen wir weiterhin mediale Aufmerksamkeit sowie Personen, die uns sowohl finanziell, als auch ideell mit ehrenamtlicher Arbeit oder als Unified Partner unterstützen.“

Zumindest in Heilbronn und Neckarsulm besteht eine gute Chance, dass die Sportlerinnen und Sportler mit mentaler Beeinträchtigung weiterhin im Fokus bleiben – denn 2025 sollen die Special Olympics Landesspiele im Franken- und Pichterichstadion stattfinden.