Eltern im Leistungssport – Wichtige Karrierebegleiter

Autor: Prof. Dr. Dirk Schwarzer

20. Juli 2018

Eine erfolgreiche Sportkarriere ist wie ein Puzzle mit 1.000 Teilen. Das bloße Vorhandensein aller Puzzle-Teile – im Sinne von Leistungsfaktoren – genügt noch nicht, sie müssen ineinander passen und es muss jemanden geben, der die Einzelteile zu einem Gesamtbild zusammenfügt (die Talente selbst, Trainerinnen und Trainer, Eltern, Mentoren etc.). Eltern haben einen großen Einfluss auf die sportliche Sozialisierung und den weiteren Karriereweg ihrer Kinder. Sie fördern emotional und finanziell, sie gehen große zeitliche Verpflichtungen ein und sind zugleich Vorbilder für Einstellungen und Verhaltensweisen. In der täglichen Praxis jedoch beobachten gerade die Trainer immer wieder, dass Eltern Verhaltensweisen zeigen, die der positiven Karriereentwicklung ihrer Kinder auf lange Sicht hin abträglich sein dürfte.

In der Literatur sind die Einflussmöglichkeiten der Eltern auf eine Sportkarriere gut belegt. Fredericks und Eccles (2004) gehen von drei verschiedenen Rollen aus, die Eltern im Zusammenspiel mit ihren Kindern einnehmen. Diese Rollen greifen in der Praxis ineinander.
1. Als Vorbilder und Rollenmodelle führen sie die Kinder zum Sport. Häufig waren die Eltern selbst leistungs- oder spitzensportlich aktiv und vermitteln so im Alltag ein Arbeitsethos, das für eine erfolgreiche Karriere notwendig ist (dabei bleiben, auch wenn es mal schwierig wird; der richtige Umgang mit Niederlagen; die täglichen Anforderungen unter einen Hut kriegen; die gewissenhafte Vorbereitung auf einen Wettkampf).
2. Die Eltern haben die Rolle der Unterstützer, und zwar in materieller, finanzieller, informationeller, zeitlicher und emotionaler Hinsicht. Diese Leistungen wurden bereits im oberen Abschnitt beleuchtet.
3. Darüber hinaus beeinflussen die Eltern durch ihre Erwartungen und Kompetenzzuschreibungen an das Kind das sportliche Vorankommen. In diesem Sinne erfüllen sie die Rolle der Interpreten (Bewertungsunterstützung). Was ist damit gemeint? Wie kommt es dazu, dass die elterlichen Erwartungen an und Bewertungen der Fähigkeiten ihrer Kinder einen bedeutenden Impuls für eine positive sportliche (und überhaupt Persönlichkeits-) Entwicklung geben können?

Eltern haben unweigerlich Hoffnungen und Vorstellungen hinsichtlich der sportlichen Begabungen ihres Kindes. In Folge der elterlichen Projektionen kommt es zu einer intensivierten Zuwendung und Bewunderung sowie zu (positiven) Erwartungen an zukünftige Leistungen und Entwicklungsfortschritte. Das Kind nimmt im Zuge der Interaktion mit den Eltern diese Zuschreibungen und verstärkten Bemühungen der Eltern wahr und integriert sie in sein Selbstkonzept („Mama und Papa halten mich für eine begabte Schwimmerin. Sie haben wohl recht, ich bin gut im Schwimmen, ich bin talentiert“). Ermutigt und bestärkt in ihrem Selbstbild als Talent zeigen sich die ersten Erfolge, das Kind bestätigt ganz konkret die Erwartungen der Eltern, Hoffnungen werden zu realen Ereignissen, eine erhöhte elterliche Zuwendung und Stolz auf die gezeigten Leistungen sind die Folge. Gleichzeitig entwickeln sich beim Kind Erwartungsmuster bezüglich der intensivierten Zuwendung seitens der Eltern.
Stabilisiert sich dieses dynamische System, so Richartz (1998, S. 426), dann ist es „von Beginn an sowohl für die Entwicklung des Kindes wie der Beziehung zwischen Eltern und Kind von großer Bedeutung“. Es kommt zu einer Passung (siehe unsere Puzzle-Analogie) zwischen den Erwartungs- und Verhaltensmustern von Eltern und Kindern und wirkt förderlich auf die sportliche Entwicklung.
Nicht immer verlaufen die Entwicklungen wie in der oben dargestellten (idealisierten) Art und Weise. Was passiert, wenn der Kreislauf von Hoffnungen, Zuwendungen und Erwartungen gestört wird? Die Investitionen der Eltern an Zeit, Geld, Geduld und Mühen lösen das Gefühl aus, Gegenleistungen erwarten zu dürfen; sie sollen dafür sorgen, dass sich die Investitionen „lohnen“.

In aller Regel ist dies den Eltern nicht bewusst, es passiert nicht mit Vorsatz, sondern offenbart sich in einem besonderen familiären Klima (beispielsweise bei der schweigsamen Heimfahrt von einem Turnier nach einer schmerzlichen Niederlage des Kindes). Die Kinder nehmen wahr, dass sie die Erwartungen der häufig überengagierten Eltern zu erfüllen haben (sich entsprechend loyal verhalten sollen), nämlich gute Resultate zu liefern, um die enormen Investitionen zu vergelten. Es entsteht ein „wechselseitiges Loyalitätsverhältnis“. Die Kinder dürfen Unterstützung erwarten, sofern sie den (unausgesprochenen) Auftrag erfüllen, erfolgreich zu sein.

Der ehemalige Formel-1-Weltmeister Nico Rosberg hat in einem Interview nach seinem Karriereende dieses Phänomen deutlich zum Ausdruck gebracht: „Im Leistungssport ist das mit der Familie so eine Sache. Man wird innig unterstützt – aber selten ohne Erwartungen“ (Gilbert 2016, S. 36, in einem Interview mit Nico Rosberg). Spätestens hier wird klar, dass es ab diesem Punkt kritisch werden kann. Es besteht die Gefahr äußerer Konflikte zwischen Eltern und ihren leistungssportlichen Kindern (oder Jugendlichen) sowie innerer Konflikte, etwa wenn das Kind den Loyalitätspflichten nicht nachkommen kann, meistens im Zuge von Misserfolgen oder Überforderungen.

Auch wenn in diesem Beitrag der Blick auf die Eltern im Leistungssport auch ein kritischer ist, so muss doch betont werden, dass die meisten ihre Aufgabe wirklich gut machen. Sie sind unaufdringliche Karrierebegleiter, engagierte und ermutigende Unterstützer, fürsorgliche Ansprechpartner, die stets offen sind für die – auch außersportlichen – Belange ihrer Kinder. Ihre Rückmeldungen sind auf die Anstrengungen, Leistungen, Fortschritte sowie auf faires Verhalten ihrer Kinder gerichtet.

Sie haben erkannt, dass die erste Frage „Und, hast du gewonnen?“ meistens die falsche ist. (DS)