Dressurreiterin Ann-Kathrin Lindner: „U25-EM-Titel ist immer noch unreal“

Dieses Wochenende im August 2020 wird Ann-Kathrin Lindner wohl nicht so schnell vergessen. Erst holte die Dressurreiterin vom Reitverein Heilbronn bei der U25-Europameisterschaft im ungarischen Pilisjaszfalu mit dem deutschen Team die Silbermedaille im Mannschaftswettbewerb, um dann am Tag darauf nach dem Einzelwettbewerb die Goldmedaille um den Hals hängen zu haben und den EM-Titel zu feiern. Zum Abschluss gewann sie mit ihrem kongenialen Partner Sunfire in der Einzel-Kür dann auch noch Bronze und machte damit ihr Medaillenset komplett. Wir haben die sympathische 24-Jährige auf der Reitanlage am Trappensee besucht und durften im Gespräch mit ihr in eine spannende Sportart eintauchen, mit der wir zuvor zugegebenermaßen noch keine Berührungspunkte hatten. 

Fotos: Marcel Tschamke, Ann-Kathrin Lindner (2)

Autor: Ralf Scherlinzky

2. November 2020

Ann-Kathrin, herzlichen Glückwunsch nochmal zum EM-Titel. Hast du inzwischen realisiert, was da im August in Ungarn passiert ist?
Ann-Kathrin Lindner: Es fühlt sich immer noch unreal an. Früher, als ich Junioren- und Ponyreiterin war, stand ich im Landeskader, habe immer zu den Reitern im Bundeskader aufgeschaut und fand es cool, wenn für sie die Nationalhymne gespielt wurde. Plötzlich wurde die Hymne nun für mich gespielt. Das war der bisher extremste Moment in meinem Leben. Ich habe mich auf alles zurückbesonnen und war einfach nur dankbar für jeden, der mich auf meinem Weg dorthin unterstützt hat.

Von anderen Sportarten kennt man die U23 oder U21 als höchste Nachwuchsklasse. Was ist im Dressursport anders, dass es hier bis zur U25 geht?
Ann-Kathrin Lindner: Bis vor ein paar Jahren ging es tatsächlich nach der U21 direkt zu den Senioren. Es war fast unmöglich, vom Level her überhaupt in deren Nähe zu kommen. Deshalb wurde vor ein paar Jahren die U25-Klasse eingeführt, um eine Brücke zwischen U21 und Senioren zu bauen. Wir reiten teilweise bereits die gleichen Anforderungen wie die Senioren, aber die Punktrichter urteilen noch nicht ganz so streng. Bei den Senioren muss jede Kleinigkeit auf den Punkt genau sitzen, während sie bei uns nachsichtiger sind. Der Sprung von der U25 zu den Senioren ist aber dennoch riesig. Da muss ich noch viel lernen.

Ihr habt beim Dressurreiten, ähnlich wie man es vom Eiskunstlauf kennt, auch ein Pflicht- und Kürprogramm. Wie muss man sich das vorstellen?
Ann-Kathrin Lindner: Man kann es tatsächlich ein bisschen vergleichen. Bei den ersten beiden Wettbewerben in der Mannschafts- und Einzelwertung gibt es eine feste Abfolge, die man reiten muss und bei der klar definiert ist, was wie aussehen muss. Nur wenn man dabei gut abschneidet, qualifiziert man sich für die Kür am dritten Tag. Auch dort müssen feste Lektionen absolviert werden, die Abfolge ist aber egal und man kann die Stärken seines Pferds besser hervorheben.

Schaut man sich die Videos von euren Auftritten an, sieht man dich regungslos auf Sunfire sitzen. Wie weiß er, wann er was zu machen hat?
Ann-Kathrin Lindner: Das „Regungslose“ schaut nur so aus und bei mir ist noch viel zu viel Bewegung drin. Man arbeitet viel mit Gewichtsverlagerung, mit den Zügeln und den Beinen. Bei der EM habe ich vom Bundestrainer den Tipp bekommen, dass ich meine Bauchmuskeln anders anspannen soll. Das habe ich gemacht und mein Pferd ist tatsächlich besser gelaufen. Die Pferde sind sensibel und spüren jede Veränderung im Körper des Reiters – auch in die negative Richtung. Wenn ich mit einem schlechten Gefühl zu einem Turnier fahre, übertrage ich das Gefühl auf das Pferd und wir sind tatsächlich nicht gut. So wie meine Laune ist, so läuft auch mein Pferd.

Aber wie bringst du dem Pferd bei, auf welches Kommando es eine Pirouette drehen soll bzw. was überhaupt eine Pirouette ist? Ihr könnt ja nicht miteinander sprechen…
Ann-Kathrin Lindner: Das ist tatsächlich eine Sache, die ich nicht wirklich erklären kann. Ein ganz junges Pferd gewöhnt man erstmal an den Sattel. Dann zeigt man ihm, dass es nichts Schlimmes ist, wenn ein Reiter auf seinen Rücken sitzt. Im nächsten Schritt lernt es mit dem Reiter zu laufen, Gleichgewicht und Takt zu finden – und so nach und nach entsteht eine Kommunikation der beiden. Im Idealfall ist das Pferd irgendwann so gut ausgebildet, dass es auf jeden noch so kleinen Impuls vom Reiter reagiert und weiß, was es zu tun hat. Natürlich benötigt diese Ausbildung viel Geduld und es hat lange nicht jedes Pferd das Talent und die Einstellung, um ein guter Sportler zu werden.

Sunfire scheint beides zu haben…
Ann-Kathrin Lindner: Fritz – das ist sein Spitzname – ist ein Ausnahmesportler. Wenn er nur sieht, dass wir den LKW herfahren, rennt er schon unruhig in der Box hin und her. Und sobald der LKW dann bereit steht, ist er nicht mehr zu halten, rennt die Rampe hoch, parkt ein und wartet, bis wir losfahren. Ein Pferd kann noch so talentiert sein – wenn es diesen Kampfgeist, dieses Feuer nicht hat, wird es nie ein Spitzenpferd werden.

Was machst du eigentlich, wenn „Fritz“ mal außer Form oder verletzt ist? Könntest du auch auf ein anderes Pferd umsteigen?
Ann-Kathrin Lindner: Ich habe noch einen 16-jährigen Hengst als Joker in der Hinterhand. Er ist ein richtiger Professor, von dem ich viel lernen konnte, und er steht auf dem gleichen Level wie Fritz, hat nur nicht ganz so viel Talent. Er lässt sich zuhause zwar total gehen und strengt sich dort auch nicht an, steigt er dann aber bei einem Turnier aus dem LKW, stolziert er als ganz anderes Pferd zur Box und kommt sich richtig wichtig vor. Und dann gibt es noch Paul, mein Nachwuchspferd, in das ich viel Hoffnung setze, das aber noch viel lernen muss. Im Normalfall geht aber immer nur ein Pferd mit zu einem Turnier. Fritz startet übrigens auch höchstens bei fünf Turnieren pro Jahr. Je besser ein Pferd ist, desto weniger Turniere reitet es. Und Fritz ist der Beste. So einen Sportler werde ich nicht nochmal bekommen.

 

Ann-Kathrin Lindners Mutter nimmt ihr zahlreiche Aufgaben rund um das Reiten ab. 

 

Wenn du im Zusammenhang mit Pferden von Sportlern sprichst, lässt das darauf schließen, dass sie auch allgemein als Sportler angesehen werden. Ist bei euren Pferden auch Doping ein Thema?
Ann-Kathrin Lindner: Ja, natürlich! Die NADA (Nationale Anti Doping Agentur) macht Dopingkontrollen bei Reitern und Pferden, wobei die Regularien gerade bei den Pferden sehr streng sind. Wir müssen ein Behandlungsbuch führen und alles, was wir mit dem Pferd machen, muss eingetragen werden – selbst wenn wir ihm nur eine Karotte füttern. Überhaupt werden unsere Pferde wie Leistungssportler behandelt. Jedes Pferd hat einen von einem Berater auf ihn zugeschnittenen Ernährungsplan und wir sind auch regelmäßig beim Physiotherapeuten. Früher wurden Pferde auf dem Feld eingesetzt und waren entsprechend gebaut. Sie sind erst durch Zucht so feinsinnig und leichtfüßig geworden, dafür sind sie aber auch sehr empfindlich und anfällig und brauchen auf diesem sportlichen Level regelmäßige medizinische Betreuung.

Das klingt alles nach einem hohen zeitlichen und finanziellen Aufwand…
Ann-Kathrin Lindner: Finanziell aufrechnen darf man das nicht. Wir sind eine totale Reiterfamilie und meine Eltern haben schon immer alles in den Reitsport investiert – sonst könnte ich nicht so oft auf Turniere fahren und erfolgeich sein. Unser roter LKW ist bei den Turnieren mit Abstand der Kleinste, aber wir können darin schlafen und sparen uns so zumindest die Übernachtung. Wenn ich während der Woche alles allein und ohne die Hilfe meiner Mutter machen müsste, käme ich auf ungefähr zehn Stunden Arbeit im Stall. Wir haben ja nicht nur Fritz, um den wir uns kümmern müssen. Aktuell haben wir acht Pferde hier, mit denen ich abwechselnd auf Turniere gehe.

Und jetzt gibt es Überlegungen, dass du deinen 20-Stunden-Job als Physiotherapeutin aufgibst und Profi wirst?
Ann-Kathrin Lindner: Genau. Ich stehe an einem Scheideweg und muss mir überlegen, ob ich weiter den Weg in den Spitzensport suchen möchte. Wenn ich es richtig aufziehe, könnte ich vom Pferdesport leben. Von den acht Pferden gehört nur eines mir – bei den anderen werde ich von den Besitzern dafür bezahlt, dass ich sie ausbilde und reite. Das würde alles schon funktionieren, aber eigentlich bin ich mit meinem Leben auch so zufrieden, wie es gerade ist. Auf der anderen Seite könnte ich als Physiotherapeutin auch später jederzeit wieder zurück in den Job. Mein Trainer Karl-Heinz Streng bereitet mich ja schon eine Weile darauf vor, wie ich mit Sponsoren und Pferdebesitzern umgehen und alles managen kann. Aber will ich ganz in die verrückte Reiterwelt einsteigen? Ich weiß es ehrlich gesagt noch nicht…

Bei diesen Überlegungen spielt bestimmt auch das Thema Olympia eine Rolle. U25-Europameisterin hört sich so an, als seist du auf einem guten Weg in diese Richtung…
Ann-Kathrin Lindner: Oje, von Olympia bin ich im Moment noch so weit weg wie von hier zum Mond. Ich bin auch nicht der Typ Mensch, der sagt „Ich will zu Olympia“ oder „Ich will Europameisterin werden“. Ich fahre auch nicht auf ein Turnier und denke, dass ich gewinnen werde. Lieber setze ich mir Miniziele, reite so, dass ich ein gutes Gefühl dabei habe, und überrasche mich am Ende selbst mit einem guten Ergebnis.

Wie sehen denn dann deine Ziele aus, wenn du überlegst Profi zu werden?
Ann-Kathrin Lindner: Durch den EM-Titel bekomme ich jetzt schon ein bisschen Druck von außen, dass ich mich so langsam auch mal den Senioren stellen müsste. Im Moment bin ich noch nicht so weit, dass ich an die rankommen würde. Aber es ist natürlich schon ein Ziel, dieses Level zu erreichen. Das wäre ein kompletter Neustart in einer anderen Klasse. Dort müsste ich mir dann bei den Kampfrichtern erst wieder ein entsprechendes Ansehen erarbeiten. Und wenn ich diesen Schritt tatsächlich schaffen würde, würde vieles davon abhängen, wieviele und welche Sponsoren mich unterstützen. Von 100.000 Reitern schafft es vielleicht einer oder zwei tatsächlich mal im Seniorenbereich bei Europameisterschaften, Weltmeisterschaften oder Olympia zu reiten. Aber ich hätte früher auch nie gedacht, dass ich mal bei einer U25-Europameisterschaft dabei sein und dann auch noch den Titel holen würde…