Denise Krebs + Annegret Schneider: Zwei EM-Pechvögel erzählen von Berlin

Die Leichtathletik- bzw. die Para-Leichtathletik-Europameisterschaft in Berlin hätte für zwei Heilbronner Sportlerinnen zum bisherigen Höhepunkt ihrer Karriere werden sollen. Doch für beide endete das vermeintliche Highlight in einem Albtraum: Denise Krebs stürzte – unbemerkt von allen Fernsehkameras – im 5000-Meter-Finale und schleppte sich trotzdem verletzt noch über die verbleibenden vier Kilometer bis ins Ziel. Annegret Schneider hatte im Weitsprung einen Blackout und verschenkte nach fünf Fehlversuchen und einem weit unter ihren Möglichkeiten liegenden Sicherheitssprung eine sicher geglaubte Medaille. Ralf Scherlinzky hat sich mit den beiden EM-Pechvögeln bei unserem Werbepartner Technik-Museum Sinsheim getroffen, um im „Barber Shop“ der American Dreamcars-Ausstellung aus erster Hand zu erfahren, wie es den beiden Athletinnen dabei ergangen ist.

Fotos: Marcel Tschamke

Autor: Ralf Scherlinzky

7. Oktober 2018

Vorneweg: Sowohl Denise Krebs als auch Annegret Schneider können inzwischen wieder lachen und auch mit einer gewissen Selbstironie von Berlin erzählen. Doch der Stachel sitzt bei beiden tief – das spürt man deutlich.

„Das eigentlich Schlimme daran ist, dass mich die ARD gegenüber dem Zuschauer als komplette Versagerin hat dastehen lassen“, ärgert sich Denise Krebs. „Wenn der Reporter bei der Übertragung sagt, dass ich total von der Rolle sei, weil ich nach etwas mehr als 800 Metern schon 20 oder 30 Sekunden hinter dem Feld herlaufe und ich danach beim Interview mit ‚War heute nicht Ihr Tag, oder?‘ begrüßt werde, dann fällt mir nichts mehr ein. Das war schon sehr peinlich, was die ARD da gemacht hat. Die hatten nicht mal ansatzweise etwas von dem Sturz mitbekommen.“

Was war tatsächlich passiert? „Nach ca. 800 Metern gab es im Feld Rempeleien. Ich war zu diesem Zeitpunkt ganz innen, um Meter zu sparen, und habe noch gedacht, Mädels, lasst den Quatsch. Da waren drei Läuferinnen nebeneinander, von denen die Mittlere schräg nach innen gefallen ist und mich sofort mitgerissen hat. Die, die noch hinter mir waren, sind alle über mich drüber gefallen bzw. sogar über mich drüber gelaufen. Ich war die Letzte, die wieder aufstehen konnte – und dann kamen die Schmerzen.“

Mit einem Außenbandanriss und einer blutenden Fleischwunde humpelte die 31-Jährige weiter. „Ich wollte die 200 Meter zur Zielgeraden noch laufen und dann aussteigen. Aber während dieser 200 Meter lief in meinem Kopf einiges ab. Ich sagte mir, auf diesen Moment habe ich ein ganzes Jahr trainiert. Ich bin topfit und kann nicht aussteigen. Das Ergebnis war zu diesem Zeitpunkt schon egal, aber ich wollte auch für diejenigen, die vielleicht wegen ein paar Hundertstel Sekunden nicht zur EM fahren durften, laufen. Also habe ich mich Meter für Meter weitergekämpft. Ich habe erst nach einer Weile mitbekommen, dass die Leute im Stadion mich anfeuerten. Und als ich in der letzten Runde auf die Zielgerade einbog, sah ich, wie die Leute applaudierend für mich aufstanden. Ich habe leicht gewunken und 60.000 Leute wurden extremst laut – das war ein erhebender Moment, den ich nicht vergessen werde.“

Weniger spektakulär, aber nicht minder enttäuschend verlief das vermeintliche Highlight für Annegret Schneider. Einen Tag nachdem die 18-Jährige im 100-Meter-Finale mit Saisonbestleistung Fünfte geworden war, hatte der Kommentator im Friedrich-Ludwig-Jahn Sportpark sie für den Weitsprung mit „Mal schauen, ob es heute Silber oder Gold für Sie wird“ vorgestellt. Doch auch bei ihr sollte alles anders kommen…

„Ich bin mit zwei Fehlversuchen gestartet, die eigentlich noch relativ gut waren. Doch dann bin ich in eine Negativspirale gerutscht. Wechselnder Wind, die steigende Nervosität und sowieso häufige Probleme mit dem Anlauf – das alles in Kombination hat mich mental runtergezogen“, so die Neckargartacherin. „Ich war ja die beiden Wochen vor der EM beim Trainingslager in Cottbus, wo ich eine neue Trainerin bekommen hatte. Auf ihre Empfehlung habe ich so kurz vor dem Wettkampf noch meinen Anlauf umgestellt – das war zu diesem Zeitpunkt suboptimal. Im Wettkampf wurde mir dann gesagt, dass der Wind von hinten kommt und ich die ersten drei Schritte kürzer machen soll. Das hat mich noch mehr verwirrt. Hätte mich mein Vater gecoacht, hätte er gesagt geh einen halben Schritt zurück, und dann wäre alles gut gewesen. Aber so ging dann alles schief.“

Nachdem sie auch beim dritten Sprung übertreten hatte, machte Annegret Schneider einen Sicherheitssprung, bei dem sie sehr weit unter ihren Möglichkeiten blieb und der am Ende ihr einzig gültiger Versuch bleiben sollte. Mit 3,17 Metern wurde sie Letzte. Die Bronze-Weite von 3,83 Metern hatte sie zuvor in den meisten anderen Wettbewerben übertroffen.

„Danach war ich echt am Boden zerstört, wollte niemanden sehen und mit keinem reden. Wenn man aus dem Stadion rauskommt, sprechen einen ja alle an, fragen wie es war oder wollen ein tröstendes ‚Kopf hoch‘ anbringen. Das war mir alles zu viel.“

Diese Erfahrung hatte auch Denise Krebs knapp zwei Wochen zuvor gemacht: „Der Weg aus dem Olympiastadion hinaus kann extrem lang sein. Wenn man da mit dem Deutschland-Adler auf der Brust mit den Spikes unter dem Arm rausläuft, sprechen einen fast alle freundlich an – nur kann man das in dem Moment gar nicht haben. Bevor ich dann auf dem Aufwärmplatz genäht und anschließend ins Krankenhaus abtransportiert wurde, hatte ich aber noch ein Schlüsselerlebnis, das mir geholfen hat. Da saß ein kleiner Junge in einem Rollstuhl mit eingegipstem Bein, der mich nach einem Selfie gefragt hat. Ich dachte mir erst nur, siehst du nicht, dass ich weine? Dann habe ich mich eines Besseren besonnen, habe mein schönstes Strahlen ausgepackt und das Selfie gemacht. Ich habe ihn gefragt, was er denn mit seinem Bein gemacht habe, und er sagte mir, er sei beim Schlafwandeln aus dem Fenster gefallen. Ich habe keine Ahnung, ob das gestimmt hat, aber in dem Moment dachte ich mir, egal was du heute hier erlebt hast – diesem Jungen geht es schlechter als dir!“

Wenn man als Sportlerin eine solche Negativ-Erfahrung erlebt, kommen da eigentlich Gedanken ans Aufhören auf?

„Genau das hat mich die Co-Bundestrainerin auch gefragt und ich habe ihr gleich gesagt, dass Aufhören keine Option für mich ist. Ich bin noch jung und habe viele weitere Jahre vor mir – da lasse ich mich nicht durch ein Negativ-Erlebnis entmutigen“, so Annegret Schneider, bei der nun erstmal das Abitur im Frühjahr 2019 oberste Priorität genießt.

Auch Denise Krebs hat innerlich bereits die Entscheidung getroffen, bis 2020 weiterzumachen, um sich nach zwei gescheiterten Anläufen vielleicht doch noch den Traum von einer Olympia-Teilnahme zu erfüllen. „Das hängt aber auch von meiner beruflichen Situation ab. Ich habe mich jetzt ein Jahr lang als freie Journalistin über Wasser gehalten und suche einen festen Job, der sich im Idealfall mit dem Training koordinieren lässt. Sollte ich diesen nicht finden, müsste ich in den nächsten Monaten wohl leider aufhören“, so die Biberacherin in Diensten von Bayer 04 Leverkusen.

Kann die erfahrene Athletin, die in ihrer Laufbahn schon mehrere Enttäuschungen erleben musste, der jungen Sportlerin etwas mit auf den Weg geben, wie man mit solchen Situationen umgeht und wieder herauskommt (Annegret Schneider: „Die Angst ist da, dass es beim nächsten Start wieder in die Hose geht – obwohl ich weiß, dass ich es kann“)?

„Für solche Situationen arbeite ich mit einem Mentaltrainer zusammen, der bei der EM auch im Stadion saß. Er hat mir empfohlen ein Tagebuch zu schreiben, in dem ich alles aufschreibe, was mich beschäftigt. Wenn negative Gedanken kommen, dann schreib sie auf – und dann stell dir die Frage, wieso es logisch schiefgehen kann. Ich begegne meinen Ängsten mit logischen Konsequenzen und erkenne dann, dass die vermeintlichen Versagensgründe eigentlich haltlos sind. Für die Zeit direkt vor dem Wettkampf habe ich mir auch ein System erarbeitet. Erst einlaufen, dann nochmal zur Toilette gehen etc. – das hake ich alles wie eine Checkliste ab und habe deshalb gar keine Zeit mehr für negative Gedanken.“

Wir drücken den beiden Leichtathletinnen die Daumen, dass Jobsuche bzw. Abitur so erfolgreich verlaufen, dass wir uns in zwei Jahren wieder in dieser Runde treffen und über ihre Erfahrungen von Tokio 2020 sprechen können 🙂