Das große Bedürfnis nach dem „Draußensein“

Insbesondere die zweite Welle der Corona-Pandemie hat den Sport mit voller Wucht erwischt. Vereine des gemeinnützigen Sportsektors geraten in finanzielle Schieflage und appellieren an die Solidarität ihrer Mitglieder zur Fortführung ihrer Mitgliedschaft. Nach einer Befragung von 20.000 Vereinen kommt die Deutsche Sporthochschule Köln (Vorabauswertung Sportentwicklungsbericht) zu dem Schluss, jeder zweite Verein erwarte in den nächsten zwölf Monaten eine existenzbedrohende Lage. Finanzielle Probleme dürften sich verschärfen, wenn hohe Personal- und Mietkosten zu bewältigen sind. Sport im Verein ist dann am schönsten, wenn man ihn gemeinsam erleben darf, doch den Vereinen bleibt zur Überbrückung des Corona-Lockdowns „nur“ das (manchmal sehr kreativ umgesetzte) Angebot von Online-Kursen.

Foto: Amelie Kühne/ Guido Colombetti Deutscher Alpenverein

Autor: Prof. Dr. Dirk Schwarzer

26. Februar 2021

Auch kommerzielle Unternehmen der Sportwirtschaft, beispielsweise Fitnessstudios und Unternehmen des Sporttourismus, bangen um ihre Existenz und hoffen auf die finanzielle Unterstützung durch die Politik. Der stationäre Sportfachhandel steckt tief im Krisenmodus: erhebliche Umsatzrückgänge im Offline-Geschäft (z.B. im alpinen Wintersport) und eine zunehmende Orientierung der Kunden in Richtung E-Commerce sorgen vielerorts für schlechte Stimmung. Im Gegensatz dazu erhöhten sich die Preise für Fitnessgeräte für das Training zu Hause (Ergometer, Laufbänder, Crosstrainer, Kraftbänke) im Dezember 2020 gegenüber dem Vorjahresmonat um stolze 13,1 Prozent (Statistisches Bundesamt). Die Umsatzentwicklung des gesamten Sportartikelmarktes im Jahr 2020 lag bei einem Minus von 18,2 Prozent (Hachmeister und Partner h+p; Sport-Report 2020). Sieht man von den sehr positiven Entwicklungen im E-Sport und einigen Individualsportarten (wie Running) ab, so dürfte es in der Sportlandschaft deutlich mehr Verlierer als Gewinner geben. Auf der Hinterbühne dieser wirtschaftlichen Entwicklungen vollziehen sich in der Sportkultur tiefgreifende Veränderungen, die bereits weit vor der Corona-Pandemie zu spüren waren: Sport und Bewegung haben sich in der modernen Gesellschaft erheblich ausgebreitet und vervielfältigt. Die Bedürfnisse der Sportkonsumenten orientieren sich häufiger an Gesundheitsmotiven und seltener am puren Leistungsstreben. Darüber hinaus haben sich die Sportkontexte merklich ausdifferenziert, der Sport ist weniger normiert, freier, bunter. Dieser Wandel schlägt sich ebenfalls in den Angebotsstrukturen nieder: Sport im Park, Parcours über den Dächern der Stadt, Klettern am Turm, Fitnesstraining im Freien, Fußball in der Soccer-Halle, Biathlon in der Fußballarena, Mountainbiken durch die Sahara.

Wenn wir diese Dynamik zugrunde legen, so stellt sich die Frage, ob sich im Zuge der Corona-Pandemie die Nachfrage nach bestimmten Sportformen verändert hat. Über der erschöpften Gesellschaft liege der „Corona-Mehltau“, so der Soziologe Hartmut Rosa. Welchen Beitrag können Sport und Bewegung leisten, um diesen Mehltau abzuschütteln, nach welcher Art des Sportreibens sehnen wir uns, in welcher Art und Weise möchten wir uns bewegen?

Wenngleich es kaum gesicherte Erkenntnisse zu diesen Fragen gibt, so lässt sich doch ein Drang zum „Draußensein“ beobachten: Alle raus in die Natur, überfüllte Wanderparkplätze, der Ansturm auf Ski- und Rodelpisten in den Mittelgebirgen, ausverkaufte Fahrradgeschäfte sowie die ungebrochen hohen Umsätze im Running-Segment sind Anzeichen für die Sehnsucht, der auferlegten sozialen Isolation zu entfliehen. Die Bedeutung der Bewegung in der Natur dürfte weiter zunehmen, insbesondere dann, wenn sich durch körperliche Aktivität eine „Resonanz“ (eine Reaktion hervorrufend) herstellen lässt: Im Gleichgewicht sein, die achtsame Fortbewegung in der Natur, kombiniert mit physischer Herausforderung – Elemente, die in resonanzerzeugenden sportlichen Bewegungsformen wie Stand Up Paddling (SUP), Mountainbiking, Bouldern, Surfen, Skitourengehen oder Schneeschuhwandern zum Tragen kommen. Diese Zutaten des Sporttreibens dürften dem Bedürfnis vieler Menschen nach Verbundenheit, nach einem Dialog mit sich und der Welt auch weiterhin – vielleicht sogar in verstärktem Maße – entsprechen.

Auch Vertreter der Sportartikelindustrie sehen im Bereich Outdoor Wachstumschancen und halten fest, dass im Gefühl der Ohnmacht Sport und Outdoor eine neue Wertigkeit besäßen, sie haben sich als „Stütze und Motivator“ bewährt. In einer verunsicherten Gesellschaft, so die Autoren weiter, „bietet das Outdoorerlebnis für Menschen einen temporären Exit in eine ursprüngliche Welt, in der sie sich lustvoll beweisen können, den Wert echter Freundschaft erfahren und die Erhabenheit der Natur ohne digitalen Filter erleben“ (ISPO Whitepaper mit Daten des rheingold instituts).

Die Sehnsucht vieler Menschen dürfte jedoch nicht nur auf den Sport in der Natur, sondern auch auf ein gemeinsames Aktivsein, auf Kommunikation und Anschluss mit und zu anderen Menschen gerichtet sein, sei es in Vereinen, Volkshochschulen, öffentlichen Parks oder in Fitnessstudios.

Buchtipp: Rosa, Hartmut (2020): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung (3. Aufl.). Berlin: Suhrkamp Verlag.