Amelie Pfeil – vom Missbrauch beim DTB betroffen

Kurz vor Weihnachten haben die deutschen Turnerinnen ihr Schweigen gebrochen. Nach und nach berichteten vor allem Athletinnen vom Olympiastützpunkt Stuttgart von psychischem und physischem Missbrauch beim Deutschen Turner-Bund durch ihre Trainerinnen und Trainer.

Den Anfang hatte am 18. Dezember 2024 Meolie Jauch im Rahmen ihrer Rücktrittserklärung vom aktiven Leistungssport gemacht. Am 25.12. erhob auch Amelie Pfeil von der TG Böckingen als eine der Ersten ihre Stimme – zahlreiche weitere Turnerinnen haben es ihr seither gleich getan. Die Leingartenerin, die Ende 2023 ihre Karriere beendet hatte, schrieb in ihrem Instagram-Post vom täglichen „Überleben in diesem System“.

Wir haben mit der 17-Jährigen, die mit elf Jahren von zuhause auszog und ins Internat am Olympiastützpunkt Stuttgart wechselte, über ihre Erlebnisse gesprochen.

Autor: Lara Auchter

5. Februar 2025

Amelie Pfeil heute: eine selbstbewusste junge Frau. Foto: Thomas Kircher

Amelie, du warst eine der ersten Turnerinnen, die offen über die Missstände in Stuttgart gesprochen hat. Danach folgten fast täglich weitere – vor allem ehemalige – Sportlerinnen. Hattet ihr euch wegen der Vorgehensweise abgestimmt?

Amelie Pfeil: Nein, nicht wirklich. Klar hatten wir untereinander Kontakt, wir haben uns aber nur dahingehend abgestimmt, dass nicht nur eine Person an die Öffentlichkeit geht und dann den ganzen Druck abbekommt. Ich müsste die Dritte gewesen sein und hatte mich erst sicher damit gefühlt, nachdem Catalina Santos als Zweite gepostet hatte. Ab da hat das Thema dann ein Eigenleben angenommen, und fast jeden Tag hat eine andere Turnerin ihre Geschichte erzählt.

War es für dich eine Befreiung, als du den Post veröffentlich hast?

Amelie Pfeil: Das lässt sich nicht so einfach beantworten. Vor allem war es erstmal beängstigend, weil man bei einem solchen Schritt natürlich auch Angst vor den Konsequenzen hat und eigentlich auch niemanden diskreditieren möchte. Auf der anderen Seite war es aber auch eine Erleichterung, weil man darauf aufmerksam machen möchte, was hinter den Kulissen passiert, und weil man den nächsten Generationen helfen möchte, damit sie das alles nicht auch durchmachen müssen. Wenn nur ein Mädchen nicht den gleichen Weg gehen muss wie ich, dann ist es das wert. Ja, es war eine Befreiung, aber eine, die mit viel Angst verbunden war.

Erfolgreich, aber unglücklich – die Turnerin Amelie Pfeil. Foto: privat

Wie waren die Reaktionen auf deinen Instagram-Post?

Amelie Pfeil: Sehr positiv, wenn man der ganzen Lage überhaupt etwas Positives abgewinnen kann. Ich habe mich zum erstem Mal so richtig gehört gefühlt. Und vom DTB kam zumindest ein Entschuldigungsschreiben.

Hatte es irgendwann einen Moment gegeben, an dem du gemerkt hast, dass etwas nicht so läuft wie es sollte?

Amelie Pfeil: Es gab schon Momente, wo ich mit meinen 12, 13 Jahren dachte, dass das jetzt nicht richtig sein kann. Aber du kannst das in dem Alter noch nicht wirklich einschätzen.

Gibt es eine konkrete Situation, an die du dich erinnerst?

Amelie Pfeil: Ja. Als ich gerade 12 Jahre alt war, hatte ich Schmerzen im Fuß und musste trotzdem trainieren. Es stellte sich heraus, dass mein Mittelfuß angebrochen war. Ich bekam einen Spezialschuh, mit dem ich dennoch am Barren weiter trainieren musste – der Balance wegen wurde ein zusätzliches Gewicht ans andere Bein gehängt. Als der Schuh weg war, hätte ich eigentlich Aufbautraining machen müssen, doch wurde ich stattdessen gleich wieder an alle Geräte geschickt. Ich habe signalisiert, dass ich noch Schmerzen habe. Da wurde ich ins Trainerzimmer gerufen und auf einen kleinen Stuhl gesetzt. Zwei Trainer setzten sich vor mir auf den Tisch, ein dritter stand, und ich musste zu ihnen nach oben schauen. Das war total bedrohlich, und natürlich kann man als junges Mädchen in einer solchen einschüchternden Situation nicht mehr für seine eigene Meinung einstehen. Also habe ich mit Schmerzen weitergeturnt, weil sie auch meinten, das sei doch alles nicht so schlimm. Irgendwann redet man sich dann auch selbst ein, dass sie recht haben.

Hast du bei solchen Vorfällen deine Eltern mit einbezogen?

Amelie Pfeil: Zum Teil haben sie es mitbekommen, aber bei weitem nicht im ganzen Ausmaß, da ich ja in Stuttgart gewohnt habe. Ich habe sie auch immer gebeten, diese Sachen bei den Trainern nicht anzusprechen, denn ich hatte Angst, dass ich dann wieder Ärger bekomme. Diese Angst war eigentlich ein ständiger Begleiter.

Bei den Diskussionen momentan wird immer vom „System“ gesprochen. Waren alle Trainer so, dass sie euch psychisch missbraucht haben?

Amelie Pfeil: Nein, das waren nur bestimmte. Und vor allem als ich dann mit 14 nach Karlsruhe gewechselt bin, war das ganz anders. Dort habe ich nochmal gelernt, wie schön die Sportart sein kann, und dass Turnen nichts Schlimmes ist, wovor man Angst haben muss.

Was waren rückblickend gesehen die Highlights deiner Karriere?

Amelie Pfeil: Die Wettkämpfe waren für mich fast alle eine Qual und ich habe ehrlich gesagt vieles aus der Turnzeit vergessen bzw. ausgeblendet. Gerne erinnere ich mich noch an die Bundesliga-Wettkämpfe mit meinem Karlsruher Team. Das war einfach eine tolle Mannschaft, bei der ich wusste, dass die mich gern haben, egal was passiert.

Was machst du jetzt nach deinem Leben als Turnerin?

Amelie Pfeil: 2024 habe ich in Karlsruhe noch meinen Realschulabschluss gemacht und ich mache die Schule jetzt mit Schwerpunkt Sozialwissenschaften weiter. Ansonsten genieße ich gerade ein glückliches, „normales“ Leben, verbringe viel Zeit mit Freunden und kann auch etwas ausgiebiger lernen. Und ich trainiere bei der TG Böckingen zweimal pro Woche eine Gruppe mit fast 20 total lieben Mädchen ab sechs Jahre. Das ist ein super schönes Gefühl.