Weltmeisterin Bera Wierhake: „Ohne Organspende wäre ich nicht hier“

Unter dem Radar der Öffentlichkeit hat im Spätjahr 2019 an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg Heilbronn (DHBW) mit Bera Wierhake eine sechsfache Leichtathletik-Weltmeisterin ihr Studium aufgenommen. Die 19-Jährige ist jedoch keine „gewöhnliche“ Leichtathletin, denn Bera Wierhake lebt mit einer Spenderleber und erkämpfte sich ihre sechs WM-Titel in der Transplantierten-Leichtathletik. Wir haben die bescheidene Athletin aus dem Zweiflinger Teilort Orendelsall schon während des Lockdowns beim „Virtuellen Sportstammtisch“ kennengelernt und konnten sie Anfang Juli bei ihrem Stammverein TSG Öhringen beim Training besuchen. Die BWL-Fashionmanagement Studentin, die ihre Duale Ausbildung beim Modepark Röther in Heilbronn und Michelfeld absolviert, erzählte uns ihre bewegende und zugleich inspirierende Geschichte, die wir hier sehr gerne mit den SPORTHEILBRONN-Lesern teilen…

Actionfotos: Julian Tschamke
DHBW-Foto: Ralf Scherlinzky

Autor: Ralf Scherlinzky

24. Juli 2020

„Am Ende eines Wettkampfes stehen wir alle zusammen im Kreis und feiern das Leben. Denn ohne Organspender würde es uns alle nicht geben“ – gleich zu Beginn unseres langen Gesprächs zeigt uns Bera Wierhake in leisen, aber nachhaltig klingenden Worten auf, dass dies kein Interview wie jedes andere werden würde.

Schon im zarten Alter von neun Monaten musste der Körper der kleinen Bera einschneidende Eingriffe über sich ergehen lassen. „Als ich drei Wochen alt war, haben die Ärzte festgestellt, dass bei mir der Übergang von der Galle zur Leber perforiert war, wodurch sich die Leber nach und nach selbst zerstört hat“, erzählt sie und berichtet von einer langen Odyssee ihrer Familie bis zur endgültigen Transplantation. „Ich war neun Monate alt, als meine Eltern den Anruf von der Transplantationsklinik in Essen bekamen, dass ein passendes Organ für mich bereit war. In der Klinik angekommen, wurde ich gleich vorbereitet und lag schon im Operationssaal, als die Ärzte gemerkt haben, dass die Leber doch nicht für mich passt. Insgesamt hat es dann zwei Monate und drei Anläufe gebraucht, ehe ich tatsächlich meine neue Leber bekommen habe. Aber es hat ja ein gutes Ende genommen.“

Einige weitere Operationen waren notwendig, ehe Bera dann daheim wieder zu Kräften kommen konnte. Zuerst wurde sie mit einer Sonde durch die Nase ernährt, dann begann sie selbständig zu essen. „Das war das Signal, dass ich über den Berg war und eine normale Kindheit vor mir haben konnte“, weiß sie von den Erzählungen ihrer Eltern. Diesen ist sie heute „mega dankbar“ dafür, dass sie ihr eine normale Kindheit ermöglicht haben: „Sie haben mich in allem supportet und ich durfte ganz normal mit anderen Kindern im Dreck spielen, während andere transplantierte Kinder nur mit Spielkameraden zusammen sein durften, die Mundschutz und Handschuhe getragen haben.“

Als die Hohenloherin 15 Jahre alt war, kam der nächste, diesmal durchaus positive Einschnitt in ihrem Leben. Bei einer Ferienfreizeit für transplantierte Kinder auf der Fränkischen Alb erzählte ihr eine Krankenschwester von Leichtathletik-Meisterschaften für Transplantierte. „Als ich das gehört habe, war mir klar, da will ich hin! Ich hatte mich zuvor schon im Turnen, Reiten und Fußball versucht, aber die Transplantierten-Leichtathletik war etwas Besonderes, was mich unheimlich gereizt hat“, erinnert sie sich. Hoch motiviert begann sie zu trainieren…

Ein starkes halbes Jahr später reiste sie zum ersten Mal zu den Deutschen Meisterschaften der Transplantierten. „Ich war unheimlich aufgeregt und hatte Angst, dass ich nicht mithalten kann“, lacht sie und zählt stolz die Erfolge ihres Einstands auf: „Ich konnte auf Anhieb gleich vier Meistertitel in den Laufdistanzen 100, 200, 1.500 und 3.000 Meter holen – das hätte ich nie erwartet.“

Inzwischen war die Studentin nicht nur dreimal bei den Deutschen Meisterschaften dabei, sondern räumte auch bei internationalen Meisterschaften einige Titel ab. Höhepunkt waren die World Transplant Games 2017 im spanischen Malaga. Mit einer einzigen Medaille hatte sie geliebäugelt – am Ende waren es die Weltmeistertitel über 400, 800, 1.500 und 5.000 Meter, Silbermedaillen in der 4 x 100-Meter-Staffel und der Teamwertung über 5.000 Meter sowie Bronze über 200 Meter.

Viel wichtiger als die sportlichen Erfolge ist bei den Sportwettkämpfen der Transplantierten jedoch das gesellschaftliche Miteinander. „Wir nehmen zwar den Sport als Anlass, um uns zu treffen, und es gibt auch einen gewissen Konkurrenzkampf. Aber eigentlich sind wir dort wie eine große Familie, in der jeder dem anderen hilft, in der man sich gegenseitig unterstützt und die Siege der anderen wie die eigenen feiert. Schließlich sind wir alle durch die Tatsache verbunden, dass wir dank eines Spenderorgans noch am Leben sein dürfen – und das verbindet.“

Gänsehaut breitet sich in der Gesprächsrunde mit Enny Bayer, Ralf Scherlinzky, Julian Tschamke und Annegret Schneider aus, als Bera Wierhake – eigentlich ganz nebensächlich – von der Weltmeisterschaft erzählt: „Wenn du zusammen mit den 2.500 Teilnehmern im Stadion stehst und in die Runde schaust, dann kommt schon mal der Gedanke auf, dass das Stadion jetzt leer wäre, wenn es keine Organspender geben würde.“

Die sechsfache Weltmeisterin ist das beste Beispiel dafür, weshalb es so wichtig sein kann, einen Organspendeausweis mit sich zu tragen. „Sollte einem tatsächlich mal etwas passieren, so kann man mit einem Organspendeausweis nicht nur einem Menschen eine Chance auf ein neues Leben geben, sondern gleich mehreren. Ich wäre heute nicht hier bei euch, hätte mein Spender damals bei seinem Unfall keinen solchen Ausweis bei sich gehabt“, sagt sie nachdenklich.

Download OrganspendeausweisDeshalb schweifen wir hier kurz vom eigentlichen Thema ab und appellieren an unsere Leser: Ladet euch bitte hier Organspendeausweis herunter, druckt und füllt ihn vollständig aus, unterschreibt ihn und legt ihn zu euren Ausweispapieren in die Geldbörse. Wir hoffen zwar nicht, dass einem von euch etwas passiert. Aber sollte der sehr unwahrscheinliche Fall je doch auftreten, dann könnt ihr mit diesem kleinen Stück Papier anderen Menschen das Leben retten!

Die Tatsache, dass transplantierte Sportlerinnen und Sportler eigene Wettkämpfe durchführen, deutet darauf hin, dass man mit einem neuen Organ nicht die Leistungsfähigkeit eines gesunden Menschen erreicht. Wo liegen die Unterschiede bzw. mit welchen Einschränkungen muss man mit einem Spenderorgan leben?

„Man muss hier natürlich die individuellen Geschichten der Einzelnen betrachten“, antwortet Bera Wierhake. „Ich selbst habe im Alltag glücklicherweise keine Probleme. Das Einzige ist, dass mein Immunsystem durch die Medikamente recht anfällig ist. Dadurch gibt es Zeiten, in denen ich allgemein etwas langsamer tun und dann natürlich auch den Sport für ein paar Tage ruhen lassen muss.“

Dass der Körper erstmal versucht ein fremdes Organ abzustoßen, ist hinlänglich bekannt. „Der Körper liest die DNA wie eine Schrift und merkt, dass das Organ nicht zu ihm gehört“, erklärt Bera Wierhake. „Diese DNA versucht man mit Medikamenten auszutricksen. Vor allem am Anfang sind die Medikamentendosen ziemlich heftig, was natürlich das Immunsystem schwächt. Man arbeitet aber darauf hin, diese so weit wie möglich zu minimieren. Der Punkt, an dem der Körper das Organ als eigenes erkennt, kommt jedoch leider nie – da darf man sich auch keine Illusionen machen.“

Momentan nimmt die 19-Jährige täglich zwölf Tabletten ein, „dann läuft die Sache“. Vor allem im letzten Jahr, als sie nach ihrem Abitur für ein Dreivierteljahr nach Australien gereist war, wurde sie vor zahlreiche logistische Herausforderungen gestellt. „Ich musste im Vorfeld einige Impfungen hinter mich bringen und abklären, zu welchen Ärzten ich für meine alle drei Monate fälligen Blutuntersuchungen dort gehen kann. Als ich dann geflogen bin, hatte ich zwei Koffer dabei – einen mit meinem Gepäck und den anderen mit Medikamenten für ein Dreivierteljahr. In Australien musste ich alle drei Monate zur Untersuchung – aber das war‘s dann auch schon mit Einschränkungen. Ich konnte mir Australien ansehen, bin nach Taiwan, Kambodscha und Indonesien gereist, habe an den australischen Meisterschaften teilgenommen und hatte eine tolle Zeit mit vielen Erfahrungen.“

Nachdem der Wettbewerbskalender der Transplantierten durch Corona heftig durcheinander gewirbelt wurde, möchte sich Bera Wierhake in nächster Zeit verstärkt mit den „Normalos“ messen und trainiert aktuell wieder fünf- bis sechsmal pro Woche. Auf die Frage, wo ihre Zeiten aus dem Transplantiertensport im „Normalosport“ einzusortieren sind, überlegt sie kurz und sagt: „Ich denke, ich könnte es bis zu den Baden-Württembergischen Meisterschaften schaffen. Für die Deutschen Meisterschaften würde es vermutlich nicht ganz reichen. Bei Kreismeisterschaften habe ich bisher meist dritte Plätze geholt.“

Ist ihren Konkurrentinen bei den „Normalos“ eigentlich bewusst, dass sie sich bei den gemeinsamen Wettkämpfen mit einer Transplantierten-Weltmeisterin messen? „Nein, so weit hat sich das noch nicht rumgesprochen“, lacht sie. „Wenn ich ein kurzes Top anhabe und man die Narbe quer über meinen Bauch sieht, gibt es zwar manchmal fragende Blicke, aber so haben das noch nicht viele mitbekommen. Vielleicht ändert sich das ja mit diesem Beitrag im SPORTHEILBRONN-Magazin…“

Eventuell können wir mit diesen drei Seiten sogar dazu beitragen, dass der Transplantiertensport auch in den Kreisen bekannter wird, für den er eigentlich bestimmt ist. „Obwohl jetzt schon die 42. Deutsche Meisterschaft ansteht, wissen viele Betroffene nicht, dass es Transplantiertensport gibt. Das finde ich sehr schade. Ich hatte ja auch selbst nur durch Zufall davon gehört“, bedauert Bera Wierhake. „Und was in diesem Zusammenhang auch kaum bekannt ist: Bei uns dürfen nicht nur Transplantierte teilnehmen, sondern auch Lebend-Organspender, die zum Beispiel einem Verwandten eine Niere gespendet haben. Einmal pro Meisterschaft laufen wir mit ihnen gemeinsam, um die Organspender im Allgemeinen zu würdigen – quasi auch als Erinnerung für uns selbst, dass es Leute gibt, denen wir unser Leben verdanken.“

Außerhalb von Wettkämpfen besteht kaum Kontakt zu Transplantierten. Deshalb ist es für die Duale Studentin umso interessanter, wenn sie sich bei nationalen sowie internationalen Wettkämpfen mit Gleichgesinnten austauschen kann. „Gerade die Medikamentenregelungen werden in jedem Land anders gehandhabt. Hier können wir uns gegenseitig helfen unseren Horizont zu erweitern.“

Einen Wunsch trägt die sympathische Sportlerin noch mit sich herum: Sie möchte anderen Menschen zur Seite stehen, die mit dem Thema Organspende konfrontiert werden: „Ich würde ihnen gerne Mut machen und zeigen, dass nach der Transplantation ein normales Leben ohne große Einschränkungen möglich ist – und vor allem, dass man durch eine Transplantation wieder eine ganz andere Lebensqualität erreichen kann als vorher.“

Wie es im sportlichen Bereich für Bera Wierhake genau weitergeht, hängt momentan – wie überall – noch von der Corona-Situation ab. „Wenn wir Glück haben, wird die Deutsche Meisterschaft im Herbst nachgeholt, aber so richtig wahrscheinlich ist das nicht. 2021 hätte die nächste Weltmeisterschaft in Boston stattfinden sollen. Das wäre ein echtes Highlight geworden, aber leider wurde sie schon jetzt abgesagt. Da muss man dann auch vernünftig sein, denn mit unserem geschwächten Immunsystem gehören wir natürlich zur Risikogruppe. Und wenn dann Athletinnen und Athleten aus der ganzen Welt zusammenkommen, ist das schon nicht ungefährlich.“

Aktuell steht nun sowieso ihr Duales Studium an der DHBW Heilbronn und beim Modepark Röther im Vordergrund. „Das macht total Spaß und ich bin happy, dass ich mich für diesen Studiengang entschieden habe.“

INFO: Wenn ihr euch über das Thema Organspende austauschen wollt, euch selbst damit auseinandersetzen müsst oder jemanden in eurem Umfeld habt, dann schreibt uns eine Mail an redaktion@sportheilbronn-magazin.de. Gerne leiten wir eure Kontaktdaten dann für einen persönlichen Austausch an Bera Wierhake weiter.