Turnschule der TG Böckingen: „Schade, dass Turnen als Randsportart gilt!“

Die Turnschule der TG Böckingen gilt als eine der erfolgreichsten Talentschmieden in Süddeutschland. Auch 2020 haben es die Trainerinnen Annett Wiedemann und Evi Schmidbauer geschafft, dass die folgenden neun ihrer Schützlinge in die verschiedenen Kader des Deutschen Turnerbundes (DTB) und des Schwäbischen Turnerbundes (STB) berufen wurden: Daniel Wörz, Milan Hosseini (beide DTB-Perspektivkader Senioren), Mika Wagner, Amelie Pfeil (beide DTB Nachwuchskader Altersklasse 13), Paula Berroth (DTB Nachwuchskader AK 11), Claudine Soliman, Mathieu Teiser (beide STB Landeskader AK 12), Ben Sellers und Louis Vangelis (beide STB Landeskader AK 10). Unsere Redakteure Ralf Scherlinzky und Enny Bayer haben das Training der Turnschule im Leistungszentrum der Mörikehalle besucht und mit den Trainerinnen gesprochen.

Fotos: Ralf Scherlinzky, Marcel Tschamke, TG Böckingen

Autor: Ralf Scherlinzky

26. April 2020

Annett Wiedemann

Evi Schmidbauer

Uschi Heidegger

Dagmar Jäger

Annett Wiedemann hat einen Traum. „Turnen ist die Grundsportart schlechthin. Für jede andere Sportart bildet das Turnen mit Laufen, Hüpfen, Springen, Rollen, Kriechen usw. die Grundlage“, sagt die Turnschul-Leiterin der TG Böckingen. „Deshalb wäre es toll, wenn die Mörikehalle in Sontheim der Sportschwerpunkt für Heilbronn werden und das Leistungszentrum den dringend benötigten Ausbau bekommen würde. Aber obwohl wir für fast jede andere Sportart die Grundlage legen, wird Turnen als Randsportart angesehen. Das ist sehr schade.“

110 junge Turnerinnen und Turner in verschiedenen Altersklassen besuchen derzeit die Turnschule. Darunter befinden sich allein 55 „Turnflöhe“ im Alter zwischen drei und sieben Jahren, die von Uschi Heidegger und Dagmar Jäger behutsam mit Bewegungsspielen an den Sport herangeführt werden. Eng wird es in der Mörikehalle vor allem am Mittwoch, wenn neben den Kindern der TGB auch noch die TSG und das KTT Heilbronn sowie die Oberliga-Damen der TG Böckingen Training haben.

„Eigentlich ist es Wahnsinn, was wir trotz der beengten Verhältnisse auf die Beine stellen. Obwohl wir nicht mal die benötigte 12 x 12 Meter große Bodenfläche haben, bilden wir junge Turnerinnen und Turner auf Landes- und sogar Bundesebene aus. Das ist in ganz Deutschland einzigartig“, so Annett Wiedemann stolz. „Mehr als vier-, fünfmal Training pro Woche können wir leider nicht bieten, weshalb wir unsere Toptalente recht früh an die Bundesstützpunkte abgeben. Die Mädchen wechseln schon im Alter von elf, zwölf Jahren, die Jungs dann mit 13 oder 14.“

Das erste Böckinger Eigengewächs, das vor rund zehn Jahren an den Bundesstützpunkt nach Stuttgart wechselte, war Antonia Alicke, die 2014 Deutschland bei den Olympischen Jugendspielen vertrat und im letzten Jahr in den USA ihre Karriere beendete. Daniel Wörz und Milan Hosseini leben und trainieren seit einigen Jahren in Berlin und haben sich dort in den Perspektivkader des Deutschen Turnerbundes sowie in das Perspektivteam Paris 2024 der Unterländer Sporthilfe emporgearbeitet. Zuletzt wagte 2017 Amelie Pfeil den Schritt an den Bundesstützpunkt in Stuttgart. 2019 wurde sie sowohl Deutsche Jugendmeisterin am Sprung als auch Deutsche Mannschaftsmeisterin mit dem Bundesligateam des MTV Stuttgart.

Mika Wagner

Mika Wagner

Der Nächste, der die Turnschule der TG Böckingen in Richtung Stützpunkt verlassen wird, ist Mika Wagner. Der 12-Jährige wandelt in den Fußstapfen von Daniel Wörz und Milan Hosseini und wechselt nach den Sommerferien ans Sportinternat am Olympiastützpunkt Berlin. Annett Wiedemann: „Mika ist schon seit seinem neunten Lebensjahr im Bundeskader. In Heilbronn kann er maximal 18 Stunden pro Woche trainieren, in Berlin sind es dagegen zwischen 20 und 25 Stunden. Dort sind Schule und Training optimal aufeinander abgestimmt und die Schule richtet sich mehr nach dem Sport als anders herum.“

Doch nicht alle jungen Athleten und Athletinnen, die die Turnschule durchlaufen, schaffen es an die Spitze. Einige von ihnen wechseln die Sportart, andere hören während der Pubertät, wegen Verletzungen oder aus schulischen Gründen ganz mit dem Turnen auf. Oder sie machen es wie Evi Schmidbauer. Die 23-Jährige, die im Alter von 5 Jahren bei Annett Wiedemann mit dem Turnen begonnen hatte, wurde Trainerin und ist auch während ihres Studiums in Karlsruhe vier- bis fünfmal pro Woche in der Mörikehalle für die Kinder der Turnschule da.

Während die jungen Männer, die den Turnsport als Hobby weiter betreiben möchten, zu anderen Vereinen in den Ligabetrieb wechseln, können die Mädels bei Eveline Carle-Schäfer in der Oberliga-Mannschaft der TG Böckingen weiterturnen. In der höchsten Liga des Schwäbischen Turnerbundes, der 5. Liga insgesamt, hat die Trainerin ihr Team im letzten Jahr auf Platz drei geführt.

Eveline Carle-Schäfer

„2020 hätte nochmal eine richtig gute Saison werden können, doch wird dank Corona leider in diesem Jahr keine Oberliga stattfinden“, bedauert Eveline Carle-Schäfer. „Unsere stärksten Turnerinnen sind 17 und 18 Jahre alt und schreiben jetzt ihr Abitur. Danach hören in der Regel die meisten auf, weil sie zum Studieren in andere Städte ziehen. Sprich, wir werden 2021 wohl mit einem wesentlich jüngeren Team mit weniger Erfahrung an den Start gehen und um den Klassenerhalt turnen.“

Anders als bei den Männern, die erst im Erwachsenenalter die für den Turnsport nötige Athletik aufbauen, nähern sich die Frauen mit 20 schon dem Ende ihrer Karriere. „Deshalb leben wir in der Oberliga hauptsächlich von den jungen Mädels, die uns Annett Wiedemann von der Turnschule ausleiht, damit sie Wettkampfpraxis sammeln“, so Eveline Carle-Schäfer. „Mit elf Jahren dürfen sie noch keine Bundes- oder Regionalliga turnen, können aber in der Oberliga starten. Amelie Pfeil war beispielsweise bei uns mit elf Jahren eine der Punktegarantinnen. Als sie dann letztes Jahr zwölf wurde, ist sie in die Bundesliga gewechselt. In der nächsten Saison könnte nun Paula Berroth für uns turnen.“

Beim Ligabetrieb der Frauen gibt es noch einen weiteren großen Unterschied zu den Wettkämpfen der Männer: Alle acht Teams der Oberliga treten an gemeinsamen Wettkampftagen an einem Ort gegeneinander an, die Saison wird an nur drei Wettkampftagen abgewickelt. Pro Wettkampftag muss jedes Team acht Turnerinnen melden, von denen fünf ans Gerät und vier in die Wertung gehen.

Eine Sache gab es dabei für die Frauen der TG Böckingen noch nie – einen Heimwettkampf vor eigenem Publikum. Eveline Carle-Schäfer: „Wir mussten bisher in der Oberliga immer nur auswärts antreten. Es wäre schon ein Wunsch von mir, dass wir mal selbst einen Wettkampftag ausrichten, aber da hängt sehr viel Arbeit dran. Vielleicht schaffen wir es ja 2021.“