Schwere Verletzungen bei Sportlern: Erstaunlich, wieviel der Kopf ausmacht
Was geht in Sportler*innen vor, wenn ihre sportlichen Karrieren durch schwere Verletzungen und Krankheiten für längere Zeit zum Erliegen kommen? Dieser Frage wollten wir auf den Grund gehen und haben einige Athlet*innen aus der Region eingeladen, damit sie uns ihre Leidensgeschichten berichten. Die Resonanz auf die Einladung war enorm: Im Beisein von Sportorthopäde Dr. Boris Brand und Mentalcoach Frank Isola haben wir uns im Heilbronner Volksgarten mit neun Leistungssportler*innen im Alter von 17 bis 43 Jahren getroffen, die allesamt mit komplett unterschiedlichen Verletzungs- bzw. Krankheitsverläufen zu kämpfen hatten bzw. noch haben. Über drei Stunden lang erzählten die Teilnehmer*innen ihre Geschichten und diskutierten – und schnell wurde klar: Neben der physischen Verletzung spielt die Psyche mindestens eine ebenso große Rolle, und die mentale Aufarbeitung ist teils auch Jahre nach der Verletzung noch nicht abgeschlossen. Alle Teilnehmer*innen der Gesprächsrunde waren geimpft, genesen oder getestet und wir hatten zur Sicherheit auch noch zwei Luftreiniger im Raum aufgestellt.
Autor: Ralf Scherlinzky
Christine Weber
Fechterin vom FC Würth Künzelsau, 17 Jahre, nicht diagnostizierte Knieschmerzen seit acht Jahren
Aydin Cengiz
Ehem. Fußballspieler der SU Neckarsulm, 40 Jahre, Karriereende wegen Bandscheibenvorwölbung
Kastriot Sopa
Profiboxer vom SV Heilbronn a.L.,
28 Jahre, kollabierte Lunge 2016, Covid-Erkrankung 2020
Hakan Tosun
Angehender Profiboxer vom SV Heilbronn a.L., 27 Jahre, tägliche Bauchkrämpfe seit Anfang 2021
Bera Wierhake
Transplantierten-Leichtathletin der TSG Öhringen, 20 Jahre, Lebertransplantation
Marc St. Jean
Ehem. Eishockeyprofi bei Heilbronner Falken, 43 Jahre, Karriereende nach Schädel-Hirn-Trauma
Martin Lanig
Ehem. Fußballprofi, u.a. beim VfB Stuttgart, 37 Jahre, 2010 Comeback nach Kreuzbandriss
Jasmin Jakob
Ringerin der RED DEVILS Heilbronn, 18 Jahre, langwierige Entzündung und Reizung im Fußgelenk
Carmen Allinger
Motocrossfahrerin beim MTC Flehingen (vorher MCC Frankenbach), Wirbelbruch 2017, Comeback 2018
„Ich habe seit acht Jahren Knieschmerzen. Es gab nie einen Auslöser, sie waren irgendwann einfach da und sind nicht mehr weggegangen“, berichtet Christine Weber. Seither pendelt die Fechterin vom FC Würth Künzelsau gemeinsam mit ihrem Trainer Julian Bielenberg von Arzt zu Arzt, von Physiotherapeut zu Physiotherapeut – ohne Erfolg, denn diese eine Diagnose, auf die die 17-Jährige immer gehofft hatte, kam bei allen Röntgenbildern und MRTs nicht heraus. Mehr als die Feststellung, dass ihr Becken etwas schief steht, gibt es nicht. „Die Schmerzen sind auch nicht ständig da. An einem Tag kann ich ein Turnier durchfechten oder einen Coopertest absolvieren, am anderen Tag kann ich weder spazierengehen noch Treppen steigen“, berichtet Christine Weber, die zu den Top-Talenten im deutschen Fechtsport zählt. „Da ich aber weiß, dass im Knie nichts kaputt ist, halten mich die Knieschmerzen nicht vom Fechten ab und ich versuche, so weit es geht vollen Einsatz zu bringen.“
Anfangs sei von Wachstumsproblemen die Rede gewesen, erinnert sich Julian Bielenberg. „Mit 17 Jahren befindet Christine sich jetzt aber nicht mehr im Wachstum – also kann es daran nicht liegen. Wir wissen inzwischen echt nicht mehr weiter. Das Knie und eigentlich ihr ganzer Körper sind überdiagnostiziert.“
Boris Brand, Sportorthopäde und Chirurg beim MediCross Zentrum in Neckarsulm, hatte im Vorfeld des Gesprächs die Befunde der letzten Jahre gelesen: „Christines Knie ist ein Paradebeispiel dafür, dass strukturell nichts kaputt ist, aber im Zusammenspiel mit anderen Faktoren etwas nicht passt. Hier den Schlüssel zu finden, ist enorm schwierig. Wenn man über so lange Zeit Schmerzen hat, können sie auch chronifizieren. Da ist die Ursache schon lange weg, aber der Schmerz bleibt.“
„Solche Phantomschmerzen können vom Kopf hervorgerufen werden, um den Körper vor möglichem Schaden zu bewahren“, bestätigt auch Frank Isola. Der Mentalcoach aus Pforzheim vermutet eine emotionale Blockade bei der jungen Sportlerin – eine Spur, die Christine Weber und Julian Bielenberg bislang noch nicht verfolgt hatten.
Eine klare Diagnose hatte dagegen Aydin Cengiz bekommen. Der ehemalige Fußballspieler der Sport-Union Neckarsulm musste 2010 aufgrund einer Bandscheibenvorwölbung die Fußballschuhe an den Nagel hängen. „Eine Bandscheibenvorwölbung haben bestimmt 50 Prozent der Leute, die hier mit uns am Tisch sitzen“, weiß Boris Brand. „Das ist kein Grund, um keinen Sport mehr treiben zu können. Auch bei Aydin scheinen wieder mehrere Faktoren zusammengespielt zu haben, denen niemand auf den Grund gekommen ist. Ein Bandscheibenvorfall wurde nie festgestellt.“
Ein Jahr hatte Aydin Cengiz um sein Comeback gekämpft. „Dann war klar, das bringt nichts mehr. Die Schmerzen waren zu stark und ich musste mit 30 Jahren aufhören. Auch heute habe ich im Alltag nochProbleme, wenn ich meinen Körper belaste“, so der 40-Jährige.
Einen ganz tiefen gesundheitlichen Einschnitt musste Kastriot Sopa hinnehmen. Der Boxer vom SV Heilbronn am Leinbach war 2016 bei der Vorbereitung auf die Olympia-Qualifikation trotz einer Lungenentzündung ins Trainingslager nach Kasachstan geflogen – auf Druck der Nationalmannschaft und gegen den Rat der Ärzte, wie er erzählt. „Nachdem ich wieder zuhause war, habe ich nach dem Training kaum noch Luft bekommen, hatte einen schlimmen Reizhusten und starke Schmerzen im Rücken“, erinnert sich der 28-Jährige. In der Notaufnahme der Klinik in Heidelberg wurde wegen eines Verdachts auf Herzinfarkt ein Ultraschall vom Herzen gemacht, aber zur Sicherheit auch ein Röntgenbild der Lunge. „Ein paar Minuten später sagten mir die Ärzte, dass ich einen Pneumothorax habe und sofort operiert werden muss. Zwischen meiner Lunge und der Brustwand hatte sich Luft angesammelt und dafür gesorgt, dass meine Lunge in sich zusammenfiel. Ich war bei der Operation nicht komplett narkotisiert und habe alles live mitbekommen – das war sehr beängstigend.“
Nach der erfolgreichen Operation, berichtet „Kasi“ Sopa weiter, habe ihm ein Arzt bestätigt, dass er am nächsten Morgen nicht mehr aufgewacht wäre, hätte ihn seine Physiotherapeutin Eleni Coskina („Sie war mein Schutzengel“) an diesem Abend nicht in die Notaufnahme gefahren. Doch die Leidenszeit des Halbweltergewichtlers war damit noch nicht beendet: „Nach der verpassten Olympiachance 2016 wollte ich 2020 nochmal angreifen. Ich war Deutscher Meister und in meiner Gewichtsklasse ungeschlagen. Wieder ging es nach Kasachstan ins Trainingslager. Dort fühlte ich mich von Tag zu Tag schlechter und hatte über längere Zeit sehr hohe Pulswerte. Wenige Wochen vor Olympia lag ich schließlich für sechs Wochen im Bett und es ging mir sehr schlecht. Das war in der Zeit, als die Corona-Pandemie aufkam. Heute weiß ich, dass ich mich infiziert hatte und mir eine Covid-Erkrankung meine zweite Chance auf eine Olympia-Qualifikation genommen hatte.“
An Frank Isola gerichtet fragt Kastriot Sopa, der seit 2021 Profiboxer ist: „Wie kann ich den Pneumothorax und die ganze Situation drumherum auch fünf Jahre später noch aufarbeiten?“
Der Mentalcoach erklärt, dass er mit der sogenannten Wingwave-Methode an die traumatischen Erlebnisse herangehen würde: „Ich würde dich die Situationen mit all ihren Emotionen nochmal durchleben lassen und mittels eines Muskeltests herausfinden, wodurch dieser Stress genau ausgelöst wird. Du bildest zwischen Daumen und Zeigefinger einen festen Muskelring, hältst ihn mit maximaler Kraft. Ich versuche den Ring aufzubekommen. Gelingt mir das bei einem bestimmten Thema, ist dieses noch mit mentalem oder emotionalem Stress verbunden. Wir Wingwave-Coaches nutzen diesen Test als „Kompass“ im Coaching-Prozess.
Dann würde ich die Situation auflösen, indem ich vor deinen Augen durch Winken REM-Phasen erzeuge, in denen wir normalerweise im Schlaf unsere Erlebnisse des Tages auf ganz natürliche Art und Weise aufarbeiten. Du würdest merken, dass das Thema leichter wird und die belastenden Gedanken nachlassen. Anschließend wird erneut mittels Muskeltest überprüft, ob das Thema verarbeitet ist. Kannst du den Ring halten, bedeutet dies, dass das Thema aufgearbeitet ist und dich nicht mehr belastet. Ich weiß, das klingt schräg, aber es funktioniert.“
Auch bei Hakan Tosun stößt Frank Isola mit der Beschreibung seines Lösungsansatzes auf großes Interesse. Der 27-Jährige ist – zumindest in der Theorie – ebenso wie Kastriot Sopa Profiboxer. „Ich bin Profi ohne Kampf und arbeite weiterhin als Gruppensprecher bei Audi. Erst musste ich mein Profidebüt aufgrund der Pandemie verschieben, und jetzt habe ich seit einem halben Jahr täglich Bauchkrämpfe. Ich gehe Tag für Tag an meine Grenzen, erreiche durch die Schmerzen aber nicht meine volle Leistungsfähigkeit, zumal ich auch Konzentrationsstörungen habe. Der Grund für die Krämpfe im Magen und Darm ist noch unklar, es scheint aber tatsächlich eine mentale Ursache zu geben. Mentaltraining habe ich bisher noch nicht probiert.“
Eigentlich passe sie thematisch nur indirekt in die Runde der schweren Verletzungen, sagt Bera Wierhake bei ihrer Vorstellung. Die 20-Jährige Öhringerin musste sich als Baby einer Lebertransplantation unterziehen und ist heute sechsfache Weltmeisterin in der Transplantierten-Leichtathletik. Doch die Medikamente, die sie ihr Leben lang einnehmen muss, damit ihr Körper das fremde Organ nicht abstößt, hinterlassen ihre Spuren. „Mein Immunsystem ist relativ schwach und ich bin anfällig für Erkältungen. Wenn ich mich verletze, dauert die Genesung auch wesentlich länger als normal. So bin ich beispielsweise 2019 wegen einer einfachen Adduktorenzerrung ganze acht Monate ausgefallen“, beschreibt die passionierte Läuferin.
2013 wurde bei Bera Wierhake erstmals ein Eisenmangel festgestellt – ein Thema, das bei der Studentin heute mental noch tief sitzt. „Mir ging es damals richtig elend, das Problem wurde aber verharmlost. Erst hieß es, ich solle damit leben oder mit dem Sport aufhören. Dann musste ich über fünf Jahre Eisentabletten schlucken, ohne dass es etwas gebracht hat. Die Werte werden heute immer noch alle paar Monate gecheckt, und sobald sie auch nur ansatzweise schlechter sind, habe ich eine Blockade im Kopf und meine Leistung bricht total ein“, lässt sie die Gesprächsrunde an ihrem Trauma teilhaben – für Frank Isola ein Grund, um den Teilnehmern seine Methode zur Aufarbeitung an Beras Beispiel live zu demonstrieren.
Ob ihre Angst vor der nächsten Untersuchung der Eisenwerte nun wohl geringer oder gar ganz weg ist? „Das war jetzt echt eigenartig, aber ich habe gerade echt gespürt, wie der Druck weniger wird, wenn ich daran denke“, sagt sie erstaunt und verspricht dem Mentalcoach, ihn nach dem kommenden Check beim Arzt anzurufen und ihm von ihren Gefühlen um die Untersuchung herum zu berichten.“
Ganz hart schlug das Schicksal bei Marc St. Jean zu. Im Frühjahr 2011 wurde der schussgewaltige und stets körperbetont spielende Eishockeyprofi innerhalb eines Sekundenbruchteils aus seinem gewohnten Leben gerissen. „Ich wurde während eines DEL2-Spiels eigentlich genauso gecheckt wie schon 500 mal zuvor – doch diesmal schoss ein heller Blitz durch mein rechtes Auge und in meinem Kopf brach sofort die Hölle aus“, erinnert sich der gebürtige Kanadier, den die Heilbronner Falken 2004 erstmals nach Deutschland geholt hatten. „Dieser Moment hat nicht nur mein Leben, sondern auch das Leben meiner Familie auf den Kopf gestellt.“
Kopf- und Nackenschmerzen, Doppelbilder, ständiger Schwindel, Gleichgewichtsstörungen, Lärm- und Lichtempfindlichkeit – Marc St. Jean war zu nichts mehr in der Lage, konnte nur noch im abgedunkelten Zimmer liegen. „Wenn ich auch nur kurz den Müll rausgebracht habe, hat mich das gleich wieder für zwölf Stunden ausgeknockt“, so der 43-Jährige, der heute in Erlenbach wohnt und nach seiner Umschulung bei einem Neckarsulmer IT-Unternehmen arbeitet.
„Wir Sportler sind ja irgendwie darauf programmiert, Schmerzen zu ignorieren. Deshalb hatte ich mich entschieden die Krankheit zu verstecken, als ich das Haus nach einigen Wochen zeitweise wieder verlassen konnte. Das Schlimme daran ist, dass du nach außen normal aussiehst und keiner versteht, wieso es dir von einer Sekunde auf die andere wieder dreckig geht. Bei einer Gesprächsrunde wie heute wäre ich beispielsweise nach 30 Sekunden für die nächsten 24 Stunden wieder flach gelegen. Die Leute sind zu mir gekommen und haben gemeint, ich sehe doch fit aus – wieso ich nicht wieder Eishockey spielen würde. Das kann echt keiner nachvollziehen, der das nicht selbst durchgemacht hat. So etwas wünsche ich nicht mal meinem ärgsten Feind.“
Boris Brand war eine der Bezugspersonen, denen Marc St. Jean während seines langsamen Heilungsprozesses vertraute. „Gehirnerschütterungen haben wir in Deutschland noch nicht wirklich lange auf dem Schirm. Da fehlt aus Unwissenheit oft das Verständnis für die Patienten“, weiß der Sportmediziner. „85 Prozent der Gehirnerschütterungen sind nach zehn Tagen wieder in Ordnung. Marc gehört leider zu den anderen 15 Prozent. Eine komplette Heilung ist bei ihm nicht mehr möglich. Bei Marc ging es von Anfang an nur noch darum, ihm mehr Lebensqualität zu vermitteln.“
Die Tatsache mit 32 Jahren seine Karriere beenden zu müssen, hatte der Verteidiger sofort akzeptiert – im Gegensatz dazu, dass er seine Familie nicht mehr ernähren und den nächsten Schritt in seinem Leben nicht mehr erreichen konnte. Die Akzeptanz für seine Krankheit kam eineinhalb Jahre nach der Verletzung: „Ich war in einer Berliner Klinik und sah Menschen, die hirntot waren und an Maschinen hingen. Da hat es Klick gemacht und ich stellte fest, dass es mich viel schlimmer hätte treffen können. Ich sagte mir, ok, du hast das jetzt und musst einen Weg finden, um vorwärts zu kommen – und sei es in Millimeterschritten.“
Geholfen hat ihm die Rückkehr zum Eishockeysport nach zwei Jahren. Bis zum Ende der Saison 2019/20 stand er in Diensten der Bietigheim Steelers – erst als Assistenztrainer, dann als sportlicher Leiter und am Ende gar als Headcoach des DEL2-Teams. „Eishockey war für mich die beste Therapie der Welt. Wenn ich auf dem Eis stand, waren alle Schmerzen für zwei Stunden vergessen.“
Inzwischen hat Marc St. Jean mit dem Eishockey abgeschlossen, ist mit sich und seiner Krankheit im Reinen und strahlt Zufriedenheit aus. Das erkennt auch Boxer Hakan Tosun an: „Respekt, aus einer solchen Situation rauszukommen und weiterzukämpfen – das ist inspirierend!“
Mehrfach war bei der Gesprächrunde bis zu diesem Zeitpunkt die Aussage zu hören, dass es besser gewesen wäre, einfach einen Kreuzbandriss zu haben. „Klare Diagnose, OP, Reha und nach acht bis neun Monaten bist du wieder der Alte“, meinte zum Beispiel Boris Brand.
Was ein Kreuzbandriss für einen Sportler jedoch bedeuten kann, davon weiß der ehemalige Fußballprofi Martin Lanig zu berichten. „Als Profisportler bist du Verletzungen gewohnt. Ich hatte schon zweimal den Fuß gebrochen, mehrere Rippenbrüche und einen Nasenbeinbruch – aber der Kreuzbandriss hat mir komplett den Boden unter den Füßen weggezogen. Ich war 24 Jahre alt und beim VfB Stuttgart auf einem richtig guten Weg. Sami Khedira, Thomas Hitzlsperger und ich haben um zwei Plätze gebattelt und ich hatte es tatsächlich geschafft, dass Thomas auf die Tribüne musste und ich spielen durfte. Und genau in diesem Spiel habe ich mir ohne Fremdeinwirkung das Kreuzband gerissen“, berichtet der 37-Jährige, der aus Lauda-Königshofen stammt. Obwohl er vier Wochen nach der Kreuzband-Operation noch ein zweites Mal unters Messer musste, um seinen Meniskus zu fixen, verlief die Rehaphase vorbildlich und Martin Lanig bestritt bereits fünfeinhalb Monate nach der Verletzung sein erstes Spiel bei den VfB-Amateuren.
So weit, so gut. Doch was spielte sich hinter den Kulissen ab? „Ich habe gemerkt, an welchem seidenen Faden die Karriere hängt und wie schnell es vorbei sein kann. Du bist in einem Umfeld, in dem du das größte Auto fährst, die tollsten Mitspieler hast und von den Fans bejubelt wirst. Und dann merkst du von einem Moment auf den anderen, wie hoch die Fallhöhe ist. Der VfB hat für acht Millionen Zrdavko Kuzmanovic aus Italien geholt, um mich zu ersetzen – da war für mich klar, dass ich nach meiner Genesung den Verein wechseln musste, falls meine Karriere tatsächlich weitergeht“, so Martin Lanig, der heute bei Anpfiff ins Leben die Jugendfußballer des FC Union Heilbronn betreut.
Neben dem Physiotherapeuten seines Vertrauens habe auch die Zusammenarbeit mit einem Mentaltrainer entscheidend zu seiner schnellen Genesung beigetragen. Vor allem, als er wieder auf dem Platz zurück war, sei die mentale Stärke wichtig gewesen: „Anfangs musste ich in Zweikämpfen an die Verletzung denken, doch dann habe ich bewusst ein paar extreme Situationen herauf provoziert, um zu sehen, ob das Knie hält. Es hielt, und ich konnte noch sieben Jahre weiter als Profi spielen, auch wenn ich nicht mehr ganz das Level von vor der Verletzung erreicht habe. Für mein Leben habe ich dabei sehr viel gelernt.“
Schmerzen im Fußgelenk hatten Jasmin Jakob über lange Zeit fast zum Verzweifeln gebracht. „Als die Schmerzen aufgetaucht waren, habe ich anfangs aus Ehrgeiz den Fehler gemacht, dass ich nicht auf meinen Körper gehört und einfach weitergemacht habe“, gesteht die Ringerin der RED DEVILS Heilbronn. „Nach langer Suche wurde eine Sehnenreizung und Entzündung festgestellt. Ich hatte auch Handball gespielt und war öfter umgeknickt. Es könnte sein, dass die Schmerzen aufkamen, weil ich nach dem Umknicken nie ein lange Pause gemacht habe.“
Erst mit ihrer Berufung in das Perspektivteam Paris 2024 der Unterländer Sporthilfe ging es mit der 18-Jährigen bergauf. Sie lernte Boris Brand kennen, der sich erinnert: „Jasmin hatte nicht nur Schmerzen im Fuß, sondern war auch psychisch angeknackst. Irgendwann mussten wir sagen, dass es jetzt nicht mehr um sportlichen Erfolg geht, sondern nur noch um ein gesundes Sprunggelenk. Das waren tränenreiche Gespräche, die aber geholfen haben. Das Gelenk wird nie mehr perfekt werden, aber sie kann lernen damit umzugehen.“
Inzwischen ist Jasmin Jakob spotlich wieder voll im Einsatz und sagt: „Mit regelmäßigen Behandlungen beim Physio sowie Krankengymnastik haben wir die Schmerzen im Griff und ich kann endlich wieder ringen.“
Glück im Unglück hatte Motocrossfahrerin Carmen Allinger bei einem Sturz im Jahr 2017, bei dem sie einen gebrochenen sowie vier angebrochene Wirbel davongetragen hatte. „Ich musste die ersten sechs Wochen liegend verbringen und die Ärzte gaben mir Fristen, bis wann ich was nicht machen darf. Daran habe ich mich exakt gehalten. Als mir der Arzt nach acht Wochen das Go gab, dass ich mich wieder bewegen durfte, ging ich erstmal Joggen. Nach exakt drei Monaten saß ich wieder auf dem Motorrad und nach genau sechs Monaten fuhr ich mein erstes Rennen“, erinnert sich die Brackenheimerin. Als sie mitten in ihren Erzählungen emotional wird, erkennt die 23-jährige selbst: „Ich habe das wohl alles immer noch nicht aufgearbeitet, vor allem, weil ich immer noch nicht weiß, wie das damals genau passiert ist.“
Die emotionale Reaktion von Carmen Allinger stieß zum Abschluss der Runde eine rege Diskussion darüber an, dass psychologische Unterstützung im Sport immer noch ein Tabuthema ist. Mit Martin Lanig und Jasmin Jakob nehmen nur zwei der Teilnehmer regelmäßig entsprechende Angebote in Anspruch und Kastriot Sopa gibt zu: „Mir wurde 2016 schon Mentalcoaching angeboten, aber ich habe es damals abgelehnt, weil ich keine Schwäche zeigen wollte.“
Boris Brand trifft zum Abschluss den Nagel auf den Kopf: „Ihr stemmt Eisen wie blöd, schaut auf Ernährung und Regeneration, geht zu Arzt und Physio. Aber die psychologische Betreuung, die das fehlende Puzzlestück zum Erfolg sein kann, blockt ihr ab, weil ihr meint ihr macht euch angreifbar.“