Olympia ist nicht alles, was zählt – Karriereende einer tollen Sportlerin

Am 18. November 2021 um 17.42 Uhr gab es kein Zurück mehr. Mit einer kleinen Bewegung ihres Zeigefingers zog Denise Krebs einen Schlussstrich. Der Mauszeiger auf dem Bildschirm wurde für einen kurzen Augenblick eins mit dem „Teilen“-Button ihres Instagram-Profils, dann war es raus. Mit 34 Jahren hatte die gebürtige Heilbronnerin ihre erfolgreiche, 20 Jahre andauernde Leichtathletik-Karriere beendet. Doch Denise Krebs hat nicht nur in der Leichtathletik einen großen Fußabdruck hinterlassen. Auch für das SPORTHEILBRONN-Magazin war und ist sie eine prägende Persönlichkeit. Es gibt tatsächlich keinen Sportler, keine Sportlerin, über den bzw. die wir in den sechs Jahren so oft berichtet haben wie über Denise. Längst ist aus den vielen Treffen, Telefonaten und Textnachrichten eine persönliche Freundschaft entstanden, und so ist es mehr als eine Ehrensache, dass wir hier mit ihr zusammen nochmal einen Blick auf eine Karriere voller Höhen und Tiefen werfen.

Autor: Ralf Scherlinzky

21. Februar 2022

Wir treffen uns bei heftigem Schneetreiben dort, wo einst für die siebenjährige Denise alles begonnen hatte. „Genau hier, in der Kurve der Laufbahn im Stadion des TSV Biberach, stand ich bei meinem ersten Wettbewerb als dritte Staffel-Läuferin. Wer hätte damals gedacht, wohin mich die Leichtathletik mal noch bringen würde“, sinniert Denise Krebs unter ihrem rot-weißen TSV Bayer 04 Leverkusen Regenschirm.
Damals, es muss 1994 gewesen sein, habe sie gemeinsam mit ihrem Vater Leichtathletik im Fernsehen angeschaut. „Das fand ich mega cool. Ich klebte geradezu am Bildschirm und wollte das auch machen. Also hat mich meine Mutter zum TSV gebracht. Zu dieser Zeit war ich aber auch schon im Kinderturnen sowie im Schwimmverein und habe dazu noch Blockflöte gespielt. An jedem Tag war etwas anderes, so dass meine Eltern schon bald meinten, ich solle mich doch bitte für eines davon entscheiden. Und das war eben die Leichtathletik“, lacht Denise Krebs, die heute zusammen mit ihrem Freund in Leipzig lebt.
Sechs Deutsche Meisterschaften, ein Europameistertitel im Team 2009, Silber bei der Militärweltmeisterschaft 2011 in Rio, ein zweiter Platz bei der Universiade 2011 im chinesischen Shenzen sowie 20 Einsätze im Trikot der deutschen Nationalmannschaft führen inzwischen die lange Liste ihrer Erfolge an. Doch bei allen Erfolgen war der Weg der Mittelstreckenläuferin, die 2018 von ihrer Paradestrecke 1.500 Meter auf die 5.000-Meter-Distanz umgestiegen war, oft mit Stolpersteinen gepflastert.

Denise, die Kämpferin

Vor allem ihr Traum von einer Teilnahme an den Olympischen Spielen hat sich nie erfüllt. 2012, 2016 und zuletzt 2021 hatte sie jeweils knapp vor der Nominierung gestanden, musste dann aber doch wieder zuhause bleiben. Zu einem besonders tragischen Ereignis mutierte das, was eigentlich ein Karrierehöhepunkt hätte werden sollen: Ihre Teilnahme am 5.000-Meter-Finale der Europameisterschaft 2018 im Berliner Olympiastadion. Nach 800 Metern war sie von einer stolpernden Gegnerin zum Sturz gebracht worden, die nachfolgenden Läuferinnen fielen über sie drüber. Obwohl sie sich dabei einen Außenbandriss und eine Fleischwunde am Knöchel zugezogen hatte, kämpfte sie sich über die volle Distanz durch und kam, bejubelt von 60.000 Zuschauern, mit großem Rückstand auf die Spitze ins Ziel – und fiel danach monatelang aus.
„Meine Karriere wurde irgendwie schon vom Zurückkämpfen geprägt und man hat mich hauptsächlich als die Kämpferin wahrgenommen, die sich nicht von Rückschlägen unterkriegen lässt. Irgendwann wollte ich dann aber einfach nicht mehr der Pechvogel sein, der für das Zurückkämpfen mit einem wohl gemeinten Schulterklopfer belohnt wird. Ich wollte auch mal am richtigen Tag das richtige Quäntchen Glück haben“, sagt die studierte Journalistin – nichts ahnend, dass sie kurze Zeit nach unserem Gespräch erneut zum Pechvogel mutieren würde: Denise Krebs zog sich zum Jahreswechsel beim Skifahren einen Kreuzbandriss zu…

Entscheidung für den Leistungssport

Entdeckt wurde die junge Denise, als sie mit 14 Jahren im 800-Meter-Lauf allen anderen davongerannt war und sich auf den Bestenlisten ganz weit nach oben geschoben hatte. Über Talentsichtungslehrgänge rückte sie recht schnell in die Jugend-Nationalmannschaft auf. „Ein erstes Highlight war für mich der Tag, als ich mit 15 plötzlich die Schnellste meines Jahrgangs in Deutschland über 800 m war. Ich erinnere mich genau, wie ich danach in meinem Zimmer gesessen bin und das Lied ‚Bilder von Dir‘ von Laith Al-Deen in Dauerschleife gehört habe. Dabei hatte ich die Bilder vom Wettkampf vor mir und war unglaublich stolz darauf, die schnellste Schülerin Deutschlands zu sein. Ab diesem Moment war klar, dass ich mich dem Leistungssport verschreiben würde.“
Natürlich habe sie das eine oder andere Mal neidisch auf ihre Mitschüler geblickt, wenn diese bei 35 Grad im Sommer im Freibad waren und Eis gegessen haben, während sie im Training schwitzte. „Doch ich habe mir gesagt, das alles kann ich auch noch später im Leben machen. Ich wollte Sportlerin sein, zu einhundert Prozent. Alles andere war mir egal. Als die anderen mit 15, 16 damit angefangen haben, die Freuden des Lebens zu entdecken, war ich auf dem Sportplatz. Was für sie die ersten Partys waren, war für mich das Training. Ich wollte genau das, und nichts anderes“, erinnert sie sich lebhaft.
Dabei ist Denise Krebs nicht den vergleichsweise einfachen Weg über eine Sportschule gegangen. Vielmehr ging sie auf eine normale Realschule, wo ihre sportlichen Ambitionen bei Lehrern und Schülern nicht immer auf Gegenliebe stießen. Nach der Mittleren Reife machte sie in Heilbronn eine Ausbildung zur Automobilkauffrau, ehe sie mit 19 Jahren ans Sportinternat nach Bochum wechselte, um sich dort dem TV Wattenscheid 01 anzuschließen.

Foto: Gladys Chai von der Laage

Magische Karriere-Momente

Der Wechsel zahlte sich schnell aus. Nach mehreren Deutschen Meistertiteln in der Jugend und drei U23-Titeln wurde sie 2008 überraschend Deutsche Meisterin über 800 Meter. „Mein Vater kam vor dem Start mit der Liste meiner Gegnerinnen zu mir und meinte, das kannst du gewinnen. Ich kränkelte an dem Tag aber, fühlte mich gar nicht gut und dachte ich hätte keine Chance. Dann entwickelte sich aber ein extrem langsames Taktikrennen, und plötzlich lief ich als Erste über die Ziellinie. Das war einer der magischen Momente in meiner Karriere“, schwärmt sie noch heute, 15 Jahre nach dem Titelgewinn.

Zwei weitere Höhepunkte ihrer Karriere tauchen in der offiziellen Liste ihrer Erfolge erst recht weit hinten auf – zu unrecht, wie Denise Krebs betont: „2011 wurde ich bei den Militär-Weltmeisterschaften in Rio de Janeiro Zweite. Leider hat die Militär-WM in der Gesellschaft nicht den Stellenwert, den sie eigentlich haben müsste. Bei mir waren damals alle Topstars mit dabei und ich holte Silber hinter Olympiasiegerin Nancy Langat, aber noch vor Hellen Obiri aus Kenia, die später zweimal Weltmeisterin und bei den Olympischen Spielen in Rio und Tokio jeweils Zweite wurde. Bei der Siegerehrung stand da die blonde Denise aus Heilbronn-Biberach zusammen mit zwei afrikanischen Topläuferinnen auf dem Siegertreppchen – da habe ich mich schon besonders gefühlt!“

Ihren größten sportlichen Erfolg durfte Denise Krebs dagegen nie feiern. „Das weiß eigentlich fast keiner, aber ich habe tatsächlich die Universiade 2011 in China gewonnen – zumindest inoffiziell“, sagt sie mit einem Hauch von Wehmut in der Stimme. „Im Rennen selbst kam ich als gute Fünfte hinter den Läuferinnen ins Ziel, die damals die Weltspitze bildeten. Bis 2018 wurden dann alle vier vor mir platzierten Läuferinnen des Dopings überführt, so dass ich inzwischen eigentlich auf den ersten Platz vorgerückt bin. Leider bin ich offiziell dennoch nur Zweite. Diejenige, die immer noch als Erste geführt wird, wurde zwei Monate nach Ablauf der Verjährungsfrist als Doperin ertappt und darf sich deshalb weiterhin Universiade-Siegerin nennen, obwohl sie betrogen hatte. Das tut schon noch extrem weh.“
innerer kampf mit sich selbst

Mit dem erneuten Verpassen der Olympischen Spiele im letzten Sommer reifte bei Denise nach und nach die Entscheidung, ihre Karriere zu beenden. „Das ist so nicht ganz richtig“, widerspricht sie. „Mir war eigentlich schnell klar, dass jetzt die Zeit gekommen ist, um aufzuhören. Dies offen auszusprechen, fiel mir aber extrem schwer. Dazu habe ich ganze fünf Monate gebraucht. In meinem Umfeld gab es immer wieder Stimmen, die mich zum Nachdenken brachten. Sie erkannten in allem Möglichen ein Zeichen dafür, dass ich doch weitermachen soll. Ich musste mich dann immer wieder fragen, ob ich einen Fehler mache. In meinem letzten Wettkampf in der Halle wäre ich ja generell die Norm für die Hallen-Europameisterschaft gelaufen. Ich müsste also nur noch ein paar Monate trainieren, um dort zu starten. Und dann wären es ja auch nur noch zwei Jahre bis zu den Olympischen Spielen gewesen…“

Lange führte Denise Krebs diesen inneren Kampf mit sich selbst, ehe sie sich selbst überzeugt hatte, dass die getroffene Entscheidung die einzig richtige ist: „Ich würde mit bis dahin 35 Jahren bei der EM 2022 ganz sicher nicht überraschend eine Medaille gewinnen. Und ob ich mir zum 21. Mal das Nationaltrikot anziehe, spielt für meine Erfahrungen nun auch keine große Rolle mehr. Ich bin 34 Jahre alt und habe noch kein richtiges berufliches Standbein. Und dann ist da noch das Thema Familienplanung. Das sind die Dinge, über die ich mir inzwischen mehr Gedanken mache als über den Leistungssport. Nach den Olympischen Spielen 2024 wäre ich 37 – da würde die Luft dann schon recht dünn für mich werden, vor allem im Hinblick auf Nachwuchs.“

Karriereende mit emotionaler Achterbahnfahrt

Am Donnerstag, 18. November 2021 war es dann soweit: Denise Krebs verkündete mit einem langen Post (Abbildung links) in ihrem Instagram-Kanal und auf ihrer Facebook-Seite ihr Karriereende.
„Der Post ist aber nicht erst an diesem Tag entstanden“, gibt sie zu und lässt uns an der emotionalen Achterbahn teilhaben, die sie in den Tagen davor durchlaufen hat. „In der Nacht von Montag auf Dienstag konnte ich nicht einschlafen und habe mich im Bett herumgewälzt. Da habe ich mir gesagt, jetzt ist die Zeit gekommen, um all meine Gedanken herunterzuschreiben. Ich wollte die ganze Last mit den ständigen Nachfragen endlich weg haben. Einen solchen Abschied zu schreiben und dabei alles zu bedenken, ist das eine. Ihn dann tatsächlich zu posten, ist nochmal eine ganz andere Nummer. Zwei Tage lang hätte ich nur noch mit der Maus auf ‚Teilen‘ klicken müssen. Stattdessen habe ich den Text mindestens noch 30 weitere Male durchgelesen und habe immer weiter an den perfekten Formulierungen geschraubt. Ich wollte einfach alles bedenken, was es zu bedenken gab.“

Was ging dann in ihr vor, als ihr Zeigefinger tatsächlich die entscheidende kleine Bewegung gemacht und damit das Karriereende gepostet hatte?
„Ich habe auf ‚Teilen‘ geklickt, bin aufgestanden, habe mein Handy weggelegt, bin spazieren gegangen und habe buchstäblich Rotz und Wasser geheult. Ich musste an meinen Vater denken, der mich zum Sport gebracht und mich überall hin begleitet hatte, solange er es konnte. Ich musste an den riesigen Einschnitt in meinem Leben denken, als ich ihn als wichtige Stütze verloren hatte. Als ich dabei nochmal den Song ‚Bilder von Dir‘ ausgepackt habe, begann es wie aus Kübeln zu schütten. Zwei Stunden lang bin ich einfach im Regen weitergelaufen, ehe ich wieder heimgegangen bin. Dort habe ich mein Handy angeschaltet und hatte Hunderte von Nachrichten.“

Unfassbare Resonanz

Nachdem sie in der Nacht darauf „erstaunlich gut“ geschlafen hatte, machte sich Denise Krebs an das Lesen und Beantworten der unzähligen Nachrichten: „Das waren unfassbar viele, die über alle möglichen Kanäle reingekommen sind, auch von Leuten, bei denen man nicht damit gerechnet hatte. Ich wollte wirklich jedem antworten, der sich die Mühe gemacht hatte, mir zu schreiben – es waren aber einfach zu viele. Auch wenn ich damit absolut nicht gerechnet hätte, waren die vielen Rückmeldungen doch eine schöne Bestätigung.“

Besonders gerührt war die nun ehemalige Spitzensportlerin von einem Artikel des Deutschen Leichtathletik-Verbandes mit dem Titel „Laufen aus Leidenschaft: Denise Krebs beendet ihre Karriere“. Als der Artikel veröffentlicht wurde, sei sie in einem geschäftlichen Onlinemeeting gesessen und habe erstmal die Kamera ausgeschaltet, um unbemerkt ein paar Tränen zu verdrücken. „Mir wurde erst beim Lesen des Artikels bewusst, dass ich von 2005 bis 2021 ununterbrochen zur deutschen Spitze gehört habe und tatsächlich in jedem Jahr bei Rennen gestartet bin. Und allein die Tatsache, dass sich jemand aus freien Stücken hingesetzt und über mich geschrieben hat und dabei einige Passagen meines Abschiedstextes übernommen hat, hat mich gerührt – denn sonst hatte ich die Sachen ja meist selbst verfasst. Ich habe die Redakteurin dann auch angerufen und mich für den Artikel bedankt. Ihr Bericht hat mir auch vor Augen geführt, dass man doch nicht nur eine tolle Sportlerin war, wenn man bei Olympia angetreten ist.“

Foto: KJ Peters

Wie geht es weiter?

Was fängt eine seit 20 Jahren durchgetaktete Ex-Leistungssportlerin mit der ungewohnten neuen Freiheit an? „Ich muss zugeben, ich trainiere weiterhin jeden Tag ein bis zweimal, weil ich es einfach für mich brauche und mich danach besser fühle. Aber natürlich spule ich lange nicht das Pensum von vorher ab. Ansonsten habe ich unsere Wohnung gestrichen, meinen Kleiderschrank nach Farben sortiert und einen Tanzkurs angefangen. Ich habe Zumba und Pilates ausprobiert und andere Dinge gemacht, für die sonst nie Zeit war. Mein Umfeld hat mich vor allem am Anfang oft besucht, um mich zu beschäftigen und mir den Abschied leichter zu machen.“
Jetzt gilt es für die Journalistin, einen guten Einstieg in das Berufsleben zu finden. Nach ihrer Ausbildung zur Automobilkauffrau war sie insgesamt siebeneinhalb Jahre Teil des Sportförderprogramms der Bundeswehr, arbeitete einige Monate in einer Sportmarketing-Agentur sowie zuletzt drei Jahre bei einer Einkaufsgemeinschaft für Medizinbedarf. Dazu gab es befristete Jobs bei Radio und Fernsehen sowie als Pressesprecherin der Leichtathletik-Abteilung des TSV Bayer Leverkusen.
„Jetzt geht es erstmal darum, Berufspraxis zu sammeln und zu schauen, ob der Journalismus wirklich das ist, was ich in meinem neuen Leben dauerhaft machen möchte. Ich habe auch während meiner Karriere bereits einige Vorträge bei Unternehmen gehalten – das ist auch etwas, was ich gerne weiter machen würde“, berichtet sie. Eine weitere Sache liegt ihr am Herzen. Sie möchte gerne jungen Sportlerinnen, die am Anfang ihrer Karriere stehen, ihre Erfahrungen weitergeben.
Liebe Denise, wir verneigen uns an dieser Stelle nochmal vor deinen großartigen sportlichen Leistungen und wünschen dir für deinen weiteren Weg alles Gute. Und wenn du in Heilbronn bist, freuen wir uns immer wieder auf deinen Besuch!