Neckarsulmer Goldhoffnungen – BSG will die Special Olympics rocken

Ein Event dieser Größenordnung hat Deutschland bislang noch nie gesehen. 7.000 Athlet:innen, 26 Sportarten, Delegationen aus 190 Ländern und über 20.000 freiwillige Helfer kommen vom 17. bis 25. Juni 2023 in Berlin zusammen, um um Gold, Silber, Bronze und die Plätze dahinter zu kämpfen. Fußball, Schwimmen, Turnen, Leichtathletik, Kanu, Tennis, Hockey, Judo – dies ist nur ein kleiner Auszug aus 22 Sportarten, in denen sich die besten Sportler:innen der Welt in Berlin batteln werden. „Wie bitte?“, werdet ihr euch jetzt fragen, „die Olympischen Spiele finden doch erst 2024 statt, und dann auch nicht in Berlin, sondern in Paris!“ Richtig. Aber wenn ihr euch diese Frage tatsächlich gestellt habt, ist auch eines klar: Ihr habt, wie wohl die meisten Einwohner der Region Heilbronn, noch nie etwas von den Special Olympics Weltspielen 2023 gehört, dem größten in Deutschland jemals dagewesenen inklusiven Sportevent für Menschen mit mentaler Beeinträchtigung. Und dies, obwohl wir stolz darauf sein dürfen, dass wir bei der BSG Neckarsulm einige der weltbesten Fußballer und Schwimmer:innen haben. Mit diesem Beitrag möchten wir deshalb zwei Dinge erreichen: 1. euch zu informieren und 2. euch für Sportler:innen aus der Region zu interessieren, die Fantastisches leisten!

Autor: Ralf Scherlinzky

2. Februar 2023

Ömer Cümen. Inna Amirov Trainerin Daniela Potocean. Elvira Amirov. Betreuerin Bettina Daurer, David Sanzenbacher, Salih Ismail Yalzin und die Vorsitzende Heike Acker (von links) werden die BSG Neckarsulm bei den Special Olympics Weltspielen in Berlin vertreten.

Fotos: SPORTHEILBRONN

Sie heißen Ömer und Ralf statt Ilkay und Manuel und werden beim Fußballturnier der Special Olympics mit Sicherheit erfolgreicher abschneiden als ihre berühmten Kollegen bei der WM in Katar. Und dennoch werden sie weder mit dicken Prämien entlohnt werden, noch wird es ihnen erspart bleiben, ein paar Tage nach dem Event wieder zur Arbeit gehen. Trotzdem werden Mittelfeld-Motor Ömer Cümen, Torhüter Ralf Andrasch und ihre Teamkameraden von der deutschen Unified-Fußball Nationalmannschaft bei ihrer Rückkehr reich sein. Reich an Erfahrung sowie reich an dem Bewusstsein, dass sie zu den weltbesten Fußballspielern gehören, die an einem denkwürdigen Sportereignis teilgenommen haben. Das kann ihnen keiner mehr nehmen!

Gemeinsam mit Jugendlichen aus der U18 des VfR Heilbronn werden die BSG-Cracks als Unified-Team in Berlin um den Titel kämpfen. Unified – der Begriff bedeutet, dass Sportler mit und ohne mentaler Beeinträchtigung eine gemeinsame Mannschaft bilden, wobei die „Normalos“ immer in der Minderheit sein müssen. Sprich, das Verhältnis auf dem Platz muss mindestens 4:3 sein.

„Wir haben letztes Jahr mit unserem BSG-Team die Deutsche Meisterschaft geholt. Damit haben wir uns für die Weltspiele qualifiziert. Weil wir bei den nationalen Spielen die Goldmedaille gewonnen haben, sind wir jetzt die Deutsche Nationalmannschaft“, erklärt Ömer Cümen. Der 35-Jährige ist der Routinier im Team. Einer, der weiß, was seine Kameraden und ihn bei den Weltspielen erwartet. „Das wird mein zweites Mal bei den Weltspielen. 2019 war ich schon in Abu Dhabi dabei. Da haben wir gegen England, Australien und die Schweiz gespielt und sind Dritter geworden. Das war alles total anders als hier, richtig aufregend“, schwärmt er.

Elvira, Inna und Ömer beim Gespräch mit der SPORTHEILBRONN-Redaktion.

Zur Vorbereitung wird das deutsche Unified-Team für eine Woche nach Portugal ins Traininglager fahren. „Da haben ein paar Sponsoren zusammengelegt und jeder muss nur noch einen kleinen Eigenanteil bezahlen“, berichtet Heike Acker, die nicht nur die Vorsitzende der BSG Neckarsulm ist, sondern auch das Fußballteam betreut und weiß: „Wir haben ein homogenes Team. Es gibt natürlich einen spielerischen Unterschied zwischen den Unified-Spielern vom VfR und uns, aber meine Jungs sind richtig gut.“

Unter anderem vetraut Heike Acker im Rahmen der Vorbereitung auf den Heilbronner Torwarttrainer Aaron Bohnes, der Goalie Ralf Andrasch für die Weltspiele fit macht. Ein kluger Schachzug: Der 32-jährige trainiert nicht nur im Auftrag der DFB-Akademie die Torhüterinnen der U17-Nationalmannschaft, er absolvierte einst auch sein Freiwilliges Soziales Jahr bei den Special Olympics.

Wieviel eine kompetente und einfühlsame Betreuung der Sportler:innen mit mentaler Beeinträchtigung für deren Leistungsfähigkeit ausmachen kann, beweisen die Schwimmer:innen der BSG. Hinter ihren Erfolgen steht vor allem eine Frau: Daniela Potocean. 1968 schwamm sie für ihr Heimatland Rumänien bei den Olympischen Spielen in Mexiko City, nahm auch sonst an zahlreichen internationalen Schwimm-Wettbewerben teil. „Ach, meine Erfolge gehören nicht hierher, die liegen lange zurück“, sagt die Meistermacherin bescheiden und winkt ab. „Lasst uns lieber über unsere jungen Leute sprechen.“

Diese strotzen vor Selbstvertrauen, fragt man nach ihren Zielen für die Weltspiele der Special Olympics. „Wir wollen gewinnen“, sagt Inna Amirov und ihre Zwillingsschwester Elvira ergänzt, Inna habe bei den nationalen Spielen 2022 drei Goldmedaillen und sie selbst zweimal Gold und einmal Silber gewonnen. Dass die beiden 21-Jährigen duchaus Chancen haben, in Berlin um Gold zu schwimmen, bestätigt auch Betreuerin Bettina Daurer: „Ein bisschen hängt es auch davon ab, in welche Leitungsklasse sie vor Ort eingeteilt werden und wie dort die Konkurrenz aussieht. In der Spitzengruppe werden sie ganz schön kämpfen müssen, aber sie haben den Ehrgeiz und ich traue ihnen den Spitzenplatz in jedem Fall zu.“

Trainerin Daniela Potocean hat nicht nur zu den Zwillingen ein besonderes Verhältnis, sondern auch zu den beiden anderen Berlin-Fahrern David Sanzenbacher und Salih Ismail Yalzin. Als Sportlehrerin an einer sonderpädagogischen Schule in Neckarsulm gehörte es um die Jahrtausendwende zu ihren Aufgaben, Erstklässlern das Schwimmen beizubringen. „Elvira, Inna, David, Salih Ismail – sie alle haben mit sechs Jahren bei mir das Schwimmen gelernt, und schau, wie sie sich entwickelt haben“, sagt sie stolz. Ganz langsam und behutsam sei sie damals vorgegangen und habe dann verstärkten Wert auf die Technik gelegt. „Ich sehe schon früh, wen ich stärker fordern kann als andere. Bei den guten Schwimmern verlange ich auch Leistung. Dass sie vielleicht eine kleine Beeinträchtigung haben, bedeutet nicht, dass man sie mit Samthandschuhen anfassen muss.“

Salih Ismail Yalzin (19) und David Sanzenbacher (16) sind unter Daniela Potoceans Einfluss zu selbstbewussten jungen Leistungsschwimmern heran gewachsen, die bei den nationalen Spielen 2022 jeweils einmal Gold geholt haben und ein klares Ziel für die Weltspiele haben: „Wir wollen auch dort Goldmedaillen gewinnen!“

Zweimal pro Woche trainieren die beiden Jungs im AQUAtoll Sportbad – dienstags eineinhalb Stunden lang, samstags drei Stunden. Inna und Elvira Amirov dagegen können nur am Samstag trainieren, denn: „Am Dienstag müssen wir arbeiten.“

Neben diesen vier jungen Schwimmer:innen wird auch Rozaliya Khudedda als Ersatzstarterin mit nach Berlin fahren. „Sie hatte leider bei der DM Pech und musste gegen eine sehr starke Konkurrentin schwimmen, die sie nicht schlagen konnte. Deshalb kommt sie nur zum Einsatz, wenn jemand ausfällt“, weiß Heike Acker, die sich „wie ein Schnitzel“ auf die Weltspiele freut.

Bis es so weit ist und ihre Schützlinge im Juni nach Berlin fahren, gibt es für die Vorsitzende der BSG Neckarsulm noch zahlreiche Hürden zu überwinden. „Das geht schon damit los, dass ich mit den Schulen der Sportler regelrecht um Freistellungen für die acht Tage kämpfen muss. Wenn zum Teil selbst in Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen der Stellenwert der Special Olympics Weltspiele nicht bekannt ist, wie sollen wir es dann schaffen, eine größere Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit zu bekommen, die sich nicht tagtäglich mit dem Thema auseinandersetzt?“

Meistermacherin Daniela Potocean bei der Arbeit.

Ein Grund für den niedrigen Stellenwert des Großevents ist sicherlich die mangelnde Präsenz in den Medien und damit schlichtweg ein geringes Wissen über Bedeutung und Struktur des Special Olympics Universums. Deshalb machen wir an dieser Stelle einen kurzen Crashkurs, denn – zugegeben – auch uns war trotz des regelmäßigen Austauschs mit Heike Acker lange nicht bewusst, welche Bedeutung die jeweiligen Wettbewerbe hatten, bei denen die BSG erfolgreich teilnahm.

Bis zum Jahr 1968 hatte es keinerlei Strukturen für den Behindertensport gegeben. Dies änderte sich, als Eunice Kennedy-Shriver, Schwester des ehemaligen US-Präsidenten John F. Kennedy, die Behinderung ihrer älteren Schwester Rosemary zum Anlass nahm, die weltgrößte Veranstaltung für Behindertensport, die Special Olympics, ins Leben zu rufen. Diese sind vom Internationalen Olympischen Komitee offiziell anerkannt und dürfen als einzige Organisation den Ausdruck

„Olympics“ weltweit nutzen. 1991 wurde der Bundesverband Special Olympics Deutschland ins Leben gerufen, der die nationalen Spiele austrägt. Zu diesen wiederum qualifizieren sich die Sportler:innen über die Special Olympics Landesspiele.
Einen gewissen Ruck könnte die Wahrnehmung in der Öffentlichkeit mit dem Special Olympics Hosttown Programm machen. Denn vom 12. bis 15. Juni 2023 gastiert im Vorfeld der Weltspiele eine Delegation mit rund 60 Sportler:innen aus Chile und ihren Begleitpersonen in Heilbronn und Neckarsulm.

Wir werden mit SPORTHEILBRONN auch weiterhin unseren Beitrag dazu leisten, dass unsere tollen Athlet:innen aus der Region von unseren Lesern wahrgenommen werden. Wir sind stolz auf euch!