Marie Pietruschka + Annika Bruhn: „Ein kleines Kribbeln hat gefehlt“

Die Sport-Union Neckarsulm war bei den Olympischen Spielen in Tokio gleich mit fünf Schwimmerinnen und Schwimmern am Start. Stellvertretend für die starke Neckarsulmer Riege haben wir uns mit zwei der Olympia-Teilnehmerinnen zu Tee und Kaffee getroffen: Marie Pietruschka (26) feierte in Tokio ihre olympische Premiere. Gemeinsam mit Annika Bruhn (29) platzierte sich die Schwimmerin mit der 4 x 200-Meter-Freistil-Staffel der Frauen auf Rang sechs der Gesamtwertung. Wie die beiden Athletinnen die Olympischen Spiele erlebt haben, was die Herausforderungen der Vorbereitung auf dieses besondere Event waren und warum nach den Spielen keine wirkliche Pause auf dem Programm stand, das verraten Marie Pietruschka und Annika Bruhn unseren Lesern hier im Interview.

Autor: Lena Staiger

18. November 2021

Wie habt ihr die Wettkämpfe ohne Zuschauer wahrgenommen? Annika, du als erfahrene Olympiateilnehmerin hast ja Vergleichswerte zu den Spielen in London und Rio…
Annika Bruhn:
Was man als Erstes sagen muss: die Wettkampfstätten vor Ort waren der Hammer! Das Ganze musste ja auch durch die Verschiebung ein Jahr in Schuss gehalten werden, dafür sah alles top aus. Das Fehlen der Zuschauer habe ich ehrlich gesagt gar nicht so sehr bemerkt bzw. es hat mich nicht sehr gestört. Wir Schwimmer hatten noch relativ gesehen Glück, da viele Athletinnen und Athleten große Teams dabei hatten, die auf der Tribüne Stimmung gemacht haben.
Marie Pietruschka: Ich muss sagen, ich habe das anders wahrgenommen. Der Vergleich zu den vergangenen Olympischen Spielen fehlt mir zwar, aber die Zuschauer und die Lautstärke haben mir schon sehr gefehlt. Klar hat das eigene Team von der Tribüne aus angefeuert, aber das war nach zehn Sekunden auch wieder vorbei. Normalerweise verzögert sich ein Start schon mal, weil zu lange angefeuert wurde. In der Olympiahalle war es zum Teil so leise, dass man seinen eigenen Atem hören konnte…

Nachdem bekannt gegeben wurde, dass die Spiele verschoben werden, kamen ja auch relativ schnell die Diskussionen auf, ob das Event überhaupt stattfindet. Habt ihr da mitgezittert?
Annika Bruhn:
Ja definitiv. In den Medien war es ja ein ständiges Hin und Her, findet es statt oder findet es nicht statt. Für uns wäre eine Absage ein richtiger Weltuntergang gewesen.
Marie Pietruschka: Im Endeffekt lag es nicht in unserer Hand und eine Absage wäre eine Entscheidung zu Gunsten der Gesundheit aller gewesen, welche wir auch hätten akzeptieren müssen. Im Prinzip war ich mir bis zum Abflug noch nicht zu 100 Prozent sicher, dass die Wettkämpfe stattfinden. Die ständigen Fragen und Zweifel im Vorfeld nagen dann doch an einem und kosten viel Energie. Deshalb habe ich versucht, alles so gut wie möglich auszublenden und mich auf mein Training zu konzentrieren. Es hat sich ja am Ende zum Glück auch gelohnt.

Annika Bruhn: Ja, so ein kleines Kribbeln hat schon gefehlt, das stimmt. Normalerweise steht man im Gang, bevor man raus zum Becken geht, und hört von dort aus die Halle schon brodeln. Dafür hat man das Deutsche Team viel mehr gehört als normal, es war aber auf jeden Fall was anderes als sonst.

Bereitet ihr euch dann auch mental anders auf so einen Wettkampf ohne Zuschauer vor?
Annika Bruhn:
Wir haben uns beide sehr gut auf die Olympischen Spiele und die abwesenden Zuschauer vorbereitet. Dafür haben wir unter anderem auch mit Sportpsychologen zusammengearbeitet. Wir wussten ja, dass keine Fans in der Halle sein würden und haben uns entsprechend darauf eingestellt.
Marie Pietruschka: Die Situation war ja auch schon das ganze Jahr über so. Bei den Quali-Wettkämpfen war es auch leise in der Halle und generell ist der Schwimmsport hier in Deutschland nicht so populär, dass man volle Stadien gewöhnt wäre. Die Amerikaner zum Beispiel hatten da vielleicht einen Nachteil.

Wie waren eure Reaktionen auf die Verschiebung der Olympischen Spiele von 2020 auf 2021? Kamen auch Zweifel auf, ob sich das ganze Training und die Energie, die man hineinsteckt, überhaupt noch lohnen, wenn die Spiele noch auf der Kippe stehen? 
Annika Bruhn:
Als es verschoben wurde, war ja noch völlig unklar, ob das Event überhaupt stattfinden würde. In meinem Kopf hatte ich aber ab dem Frühjahr keinerlei Zweifel mehr, dass wir wirklich nach Tokio fliegen, denn eine Absage wäre nicht so kurzfristig erfolgt. Mit einer anderen Einstellung hätte ich mich aber auch nicht motivieren und im Training jeden Tag 100 Prozent aus mir herausholen können.
Marie Pietruschka: Bei mir war es ähnlich. Mein ursprünglicher Plan war ja, meine Karriere nach Olympia zu beenden. Im kompletten letzten Jahr hatte ich nur ein Standbein, das Schwimmen. Meine berufliche Entwicklung blieb vor lauter Training auf der Strecke. Durch die Verschiebung wurde mir klar, dass ich nicht alleine auf den Sport bauen kann. So habe ich von meiner Heimat Leipzig aus Kontakt mit der Schwimmabteilung in Neckarsulm aufgenommen, weil ich wusste, wie stark die duale Karriere hier gefördert wird. Letztendlich bin ich nun bei Bechtle und schreibe dort meine Bachelorarbeit. Ich habe tatsächlich gemerkt, dass mir das Arbeiten sogar Spaß machen kann (lacht). Mit der jetzigen Situation und dem Mix aus Leistungssport und beruflicher Weiterentwicklung bin ich überglücklich.

Ihr beide habt bisher offengelassen, wie es nach den Olympischen Spielen für euch weitergeht. Habt ihr euch schon entschieden, ob ihr weitermacht? Bis zu den Spielen in Paris sind es ja nur noch drei Jahre…
Marie Pietruschka:
Drei Jahre im Leistungssport sind sehr lang. Man muss immer schauen, ob der Körper noch mitmacht und ob auch die mentale Einstellung noch stimmt.
Annika Bruhn: Wir sind in Zukunftsfragen im Moment noch offen. Jetzt steht erst einmal die Kurzbahnsaison an, bei der wir beide die WM mitschwimmen wollen. Der Fokus liegt jetzt bis dahin noch auf dem Schwimmen und danach erstmal auf dem Beruflichen. Marie schreibt, wie schon erwähnt, gerade ihre Bachelorarbeit und ich werde bald beginnen, an meiner Masterthesis zu arbeiten. Mal schauen, wie es danach weitergeht, ein festes Enddatum haben wir beide nicht.

Konntet ihr nach der Rückkehr aus Japan erst einmal entspannen oder ging es direkt wieder ins Training?
Annika Bruhn:
Im Prinzip ging es direkt weiter mit der International Swimming League (ISL) Ende August in Neapel. So wirklich Pause war das also nicht. Eineinhalb Wochen nach Olympia bin ich wieder zum Training ins Wasser, ein richtiges Durchatmen konnten wir uns bisher nicht leisten. Das kommt dann nach der WM in Abu Dhabi im Dezember. Vielleicht war das aber auch gar nicht so schlecht, so sind wir nicht in das berüchtigte Loch nach dem Mega-Event gefallen, sondern haben beide total Lust auf die Kurzbahnsaison.

Wie ist diese ISL organisiert?
Marie Pietruschka:
Insgesamt gibt es zehn Teams, die im Frühling gedraftet werden. Bei mir war der Draft eigentlich schon vorbei, als ich einen Anruf vom Manager meines jetzigen Teams Cali Condors bekommen habe. Er hat mich gefragt, ob ich Interesse hätte, in der kommenden Saison für sein Team zu schwimmen. Ich habe sofort total Herzrasen bekommen und wurde sehr aufgeregt. Eine Woche vor Tokio habe ich dann zugesagt. Um ehrlich zu sein hatte ich beim ersten Mal richtig Panik. Als ich aus Tokio zurück kam, habe ich nur drei Tage Pause gemacht, bevor ich wieder voll ins Training eingestiegen bin. Ich habe mich selbst so unter Druck gesetzt, bei meinem ersten ISL Event abzuliefern, weil man ja auch den Ansprüchen des Teams genügen möchte. In den Teams schwimmen nur die hochkarätigsten Spitzenathleten aus aller Welt, da will man natürlich nicht patzen, zumal mein Team die Liga letzte Saison gewonnen hat. Als ich dann vor Ort war, war es besser als gedacht.

Annika Bruhn: Ja die Events der ISL sind schon etwas ganz Besonderes, man spricht auch von der ISL-Family. Es ist für die Top-Sportler der Weltspitze ein neues Format und man wird total herzlich ins Team aufgenommen. Man schwimmt mit Sportlern aus aller Welt und alle sind sehr nett und haben Lust, neue Leute kennen zu lernen. In meinem Team DC Trident haben wir zum Beispiel 18 verschiedene Nationen, das ist schon spannend.

Und die Teams schwimmen dann in Wettkämpfen gegeneinander und es gibt am Ende der Saison eine Gesamtwertung?
Marie Pietruschka:
Genau. Die Teams schwimmen in verschiedenen Formaten gegeneinander und sammeln Punkte. In Neapel zum Beispiel sind je vier Teams ein Match geschwommen, pro Strecke zwei Sportler. Die Zeiten sind dabei total egal, es geht nur ums Punktesammeln. Annika Bruhn: In der Tabelle sind die zwei schwächsten Teams jetzt rausgeflogen. Im November geht es dann für die verbleibenden acht Teams in die Playoffs und im Finale schwimmen nur noch vier Teams um den Sieg.

Marie du hast ja auch abseits der Schwimmhalle Schlagzeilen gemacht mit deinem Playboy-Cover im Vorfeld der Olympischen Spiele. Wie hat die teils doch sehr konservative Sportwelt darauf reagiert?
Marie Pietruschka:
Ehrlich gesagt habe ich so gut wie keine Reaktion darauf bekommen. Ich habe mir im Vorfeld, als die Anfrage kam, sehr gut überlegt, ob ich auf so ein Shooting Lust habe und habe mich dann dafür entschieden. Ich finde die Fotos wunderschön und stehe auch dazu. Klar gab es den ein oder anderen sehr konservativen Artikel á la wir Sportlerinnen sollten uns doch mehr auf das Training und unsere Leistung konzentrieren, statt uns anzüglich darzustellen. Das finde ich aber totalen Quatsch, das eine schließt doch das andere nicht aus. Im Endeffekt hatte ich während Olympia auch andere Gedanken im Kopf, als auf die Reaktionen auf das Playboy-Shooting zu achten (lacht).