Heilbronn im Fokus der Freestyler: Deutsche Meisterschaft in Sontheim
Was sich am 9. Oktober in der Sporthalle im Hofwiesenzentrum der TSG Heilbronn abspielte, hatte Heilbronn in dieser Form zuvor noch nicht gesehen. Knapp 40 Mädels und Jungs, Frauen und Männer im Alter von 13 bis über 30 Jahren betraten nacheinander die Bühne, um mit ihren Fußbällen in 1-vs-1-Battles unglaubliche Ball-Kunststücke vorzuführen. Mitten unter ihnen: Ricardo Rehländer. Der Heilbronner ist nicht nur einer der besten Freestyler Deutschlands, er ist auch derjenige, der für diesen Oktobersamstag die Deutsche Freestyle Fußball Meisterschaft als Event nach Heilbronn geholt hat.
Autor: Ralf Scherlinzky
„Die DM war nach dem Ausfall 2020 auch in diesem Jahr auf dem besten Weg, nicht ausgetragen zu werden“, erzählt der 28-Jährige. „Deshalb habe ich mich mit ein paar Freunden aus der Freestyler-Community zusammengetan, um hier in Heilbronn etwas auf die Beine zu stellen. In der TSG Heilbronn und deren Geschäftsführer Marcel Hetzer fand Ricardo Rehländer gleich einen interessierten Zuhörer, als er von seiner Suche nach einem Austragungsort für die Deutsche Meisterschaft berichtete.
Rund zwei Monate hatte das Orgateam Zeit, um ein Event auf die Beine zu stellen, das nicht nur die Szene trotz Corona-Pandemie wieder zusammenführte, sondern gleich in drei Wettbewerben die neuen Deutschen Meister ermittelte. Hatte es bislang nur die Kategorien „Male“ und „Rookies“ gegeben, so wurde in Heilbronn nun erstmals auch eine Deutsche Meisterin ermittelt. „Wir hatten in Deutschland eigentlich nie genügend Freestylerinnen, damit sich eine Meisterschaft gelohnt hätte“, weiß Ricardo Rehländer. „Während der Lockdowns haben aber extrem viele Mädchen zuhause vor dem Spiegel angefangen und die Szene ist so gewachsen, dass wir jetzt auch einen ‚Female Champion‘ küren konnten.“
Nach der Qualifikation starten beim Freestyle Fußball die Wettbewerbe ab dem Achtelfinale mit 1-vs-1-Battles. Die beiden direkten Konkurrenten stehen gemeinsam auf der Bühne und haben abwechselnd dreimal ca. 30 Sekunden Zeit, um – musikalisch begleitet vom DJ – vor drei Judges ihr Können unter Beweis zu stellen. Die Schiedsrichter, zu denen in Heilbronn auch die mehrfache Weltmeisterin „Aguska“ aus Polen (160.000 Abonnenten auf Instagram) gehörte, beurteilen die Performance nach Kriterien wie Akrobatik und Schwierigkeit der Tricks. Im Gegensatz zu Sportarten wie Rollkunstlauf entscheiden jedoch keine Noten über Sieg und Niederlage. Das Urteil wird rein nach der subjektiven Meinung der Judges gefällt – mit einem Fingerzeig auf den Sieger.
Die Judges gewähren auch für Lokalmatadoren keinen Heimvorteil, wie Ricardo Rehländer bei der DM erkennen musste – denn im Halbfinale war für den ITArchitekten eines Neckarsulmer Unternehmens Endstation auf seinem Weg zum Meistertitel. Am Ende reichte es dann zumindest noch zu einem Platz auf dem imaginären Treppchen. Nach zwei vierten Plätzen 2018 und 2019 gewann Ricardo Rehländer Bronze.
Mit 15 Jahren hatte er einst mit dem Freestlyen begonnen. Ein Video des Brasilianers Ronaldinho hatte den jungen „Rico“ damals inspiriert: „Ich habe gesehen, wie er den Ball im Nacken und auf dem Kopf balanciert. Das wollte ich auch können und ich habe in meinem Kinderzimmer begonnen zu üben. Auf YouTube habe ich nach und nach immer mehr Videos mit immer neueren Tricks entdeckt. Das war wie eine Sucht.“
Bis heute ist Ricardo Rehländer süchtig nach dem Freestylen – einem Sport, der ihn seither rund um die Welt geführt hat: „Ich hatte Auftritte bei Eröffnungen und Galas von Scheichs in den Arabischen Emiraten, sowie in Deutschland bei gefühlt der Hälfte der DAX-Unternehmen.“ Lange Zeit trainierte der DM-Dritte zwei bis drei Stunden täglich, inzwischen hat er den Trainingsaufwand jedoch aufgrund des Berufs auf rund acht Stunden pro Woche reduziert. Natürlich gebe es Freestyler, die davon leben können, „aber dann musst du durchgehend Shows machen, musst bei Hochzeiten, Galas und Firmenevents, Messen etc. auftreten. Dort ist Geld verdient, aber der Aufwand ist immens.“
Aktuell umfasst die Szene in Deutschland rund 120 aktive Freestyler, die sich fast wöchentlich zu privaten Meetings treffen. Der Community-Gedanke wird in der Underground-
Sportart, die um die Jahrtausendwende mit dem Start von YouTube zum Leben erweckt worden war, hoch gehalten.
Die meisten jungen Freestyler fangen mit rund 12 Jahren an und Ricardo Rehländer weiß: „Da kommen ein paar richtig gute Talente nach!“ Erstaunlich für den Laien ist, dass von den Topspielern in Deutschland keiner aktiv im Verein Fußball spielt. „Viele kommen natürlich über den Fußball rein“, erklärt Ricardo Rehländer. „Am Anfang versucht man vielleicht noch, beides parallel zu machen. Aber wenn du auf Deutschland- oder gar Weltniveau kommen möchtest, hast du keine Zeit mehr, um Ligaspiele zu machen. Da musst du schon deine drei, vier Stunden täglich trainieren und es bleibt schlichtweg keine Zeit mehr für einen anderen Sport.“
Noch organisieren sich die Freestyler in Deutschland selbst, einen Verband gibt es nicht. „Noch nicht“, wie Ricardo Rehländer betont. Das Orgateam der Deutschen Meisterschaft ist gerade dabei, den Deutschen Freestyle Fußball Bund (DFFB) zu gründen, um in die Szene eine Struktur reinzubringen. Deutsche Meisterschaften wurden bisher beispielsweise nur unregelmäßig ausgerichtet: 2009, 2010, 2014 und dann erst wieder 2018 und 2019.
Künftig sollen diese jedes Jahr stattfinden – und zwar in Heilbronn, wenn es nach Ricardo Rehländer geht. „Die globale Community trifft sich einmal im Jahr zu den Weltmeisterschaften in Prag. Wieso soll die deutsche Community dann nicht jedes Jahr nach Heilbronn kommen?“ TSG-Geschäftsführer Marcel Hetzer hat am Rande der Deutschen Meisterschaft 2021 schon betont, dass er für solche Vorschläge immer ein offenes Ohr habe…