Gehirnerschütterung: Der Zentralcomputer ist beschädigt

Autor: Ralf Scherlinzky

26. Januar 2019

„Wir reden von Sportlern, denen man ihre Verletzung nicht ansieht, die aber trotzdem etwas haben, was man nicht fotografieren kann“, erklärt Dr. Boris Brand. „Das wurde lange nicht ernst genommen, und auch heute befassen sich Neurologen und Notfallmediziner oft noch nicht wirklich damit. Es gibt die Glasgow Coma Scale, eine Skala zur Abschätzung der Bewusstseinsstörung. Wenn der Patient bei den Tests 15 Punkte erreicht, ist er offiziell gesund und wird nach Hause geschickt – auch wenn es ihm nicht gut geht. So war das auch beim ersten Neurologen-Besuch von Richard Gelke.“ 

Diagnosemöglichkeiten / Taschenkarte zur Erkennung

Die Schwierigkeit bei der Diagnose einer Gehirnerschütterung sei, dass es kein typisches Krankheitsbild gebe. „Es gibt unheimlich viele mögliche Symptome, die auftreten können, aber nicht auftreten müssen. Hast du eine Gehirnerschütterung, muss dir nicht unbedingt schwindlig sein“, so Boris Brand. „Beim Kreuzbandriss macht man ein, zwei Tests und weiß, was Sache ist. Eine Gehirnerschütterung lässt sich nicht durch ein bestimmtes Schema diagnostizieren. Die Diagnose entsteht eher aus einer Kombination von Tests und viel Erfahrung.“

Im Rahmen eines „Consensus Meetings“ mit Experten aus aller Welt war Boris Brand an der Entwicklung eines Erkennungstools beteiligt, das die meisten Teamärzte und Physiotherapeuten im Spitzensport am Spielfeldrand verwenden. „Das ist schon mal super. Aber was ist mit Amateuren und Jugendlichen? Die sind mit ehrenamtlichen Betreuern und Eltern unterwegs, die ein solches Tool im Normalfall nicht haben“, sagt Boris Brand.

Um Abhilfe zu schaffen, haben wir nebenstehend eine Taschenkarte abgebildet und ermutigen alle Sportler, Trainer, Betreuer und Eltern dazu, die Karte auszuschneiden und bei Wettkämpfen bei sich zu tragen.

Das größte Problem beim Erkennen einer Gehirnerschütterung seien meist die Sportler selbst: „Oft wollen sie ihre Teamkameraden nicht im Stich lassen oder möchten nicht als Weichei dastehen, da es sich aus ihrer Sicht um eine Lappalie handelt. Dieses Verhalten ist aber auch ganz einfach zu erklären. Bei einer Gehirnerschütterung ist der Zentralcomputer, der dich steuert, beschädigt. Wenn dein Knie nicht funktioniert, sagt dir dein Gehirn, pass auf, dein Knie funktioniert nicht. Wenn aber dein Gehirn nicht funktioniert, kann dir dein Gehirn nicht sagen, dass es selbst nicht funktioniert. Da muss einer von außen kommen, dieses Nicht-Funktionieren erkennen und dich aus dem Verkehr ziehen.“

Was passiert im Gehirn?

„Man geht von einer Energiekrise im Gehirn aus“, beschreibt Boris Brand. „Durch einen Sturz, einen Schlag oder ähnliche Einflüsse finden Zerreißungen von Umhüllungen von Nervenbahnen statt. Alles verschiebt sich, die Zellen kommen durcheinander, die Durchblutung geht zurück. Dadurch funktioniert alles, was Energie braucht, nicht mehr so, wie es soll. Dir ist schwindlig, du kannst keine Reize übers Ohr vertragen, optische Reize tun im Kopf weh, du kannst nicht mehr richtig denken, hast Konzentrationsprobleme, fühlst dich wie im Nebel, bist reizbar, wirst depressiv“.

Behandlung

„Es gibt keine klassische Behandlung. Hat man eine Gehirnerschütterung, muss man sich aus allem heraushalten. Finger weg vom Handy! Den Fernseher ausgeschaltet lassen! Das Buch weglegen! Kein Auto fahren! Höchstens im Wald spazieren gehen, wo es keine großen Einflüsse von außen gibt. Das ist unheimlich schwierig für die Betroffenen, aber der Zentralcomputer muss dringend heruntergefahren werden“, so Boris Brand.

„Normaler“ Krankheitsverlauf

Hält sich der Betroffene an die Vorgabe, sich aus allem herauszunehmen, gehen die Symptome im Durchschnitt schon am ersten Tag um rund 20 Prozent zurück. Nach zehn Tagen sind bereits 85 Prozent abgeklungen. „Die restlichen 15 Prozent müssen aber intensiver betreut werden, denn sonst kann man vieles kaputt machen“, warnt Boris Brand.

„Ist der Patient nach kompletter Ruhe für 24 Stunden symptomfrei, kann er auf den Heimtrainer gehen. Treten dort bei steigendem Puls Symptome auf, ist er noch nicht fit und muss zurück auf die Couch. Ist er dann wieder für 24 Stunden ohne Symptome, kann er es erneut versuchen. Wenn auf dem Heimtrainer alles in Ordnung ist, kann er zum Intervalltraining aufs Fahrrad gehen. Übersteht er auch dies, kann er mit leichtem Teamtraining ohne Körperkontakt beginnen. Verläuft auch dieses Training beschwerdefrei, bekommt er wieder grünes Licht. Dieses ‚Return-to-Play-Protocol geht insgesamt über sechs Tage.“

Das berüchtigte „2nd Hit Syndrom“

Mit einer noch nicht ganz abgeklungenen Gehirnerschütterung wird das menschliche Gehirn empfindlicher. Deshalb ist der Schaden, den ein weiterer „Einschlag“ innerhalb kurzer Zeit anrichtet, umso größer. „Dieser muss dann nicht mal allzu heftig sein. Richard Gelke wurde zwei Wochen nach seiner ersten Gehirnerschütterung zum zweiten Mal an der Schläfe getroffen und war sieben Monate draußen. Dem kanadischen Eishockey-Superstar Sidney Crosby war es genauso ergangen, und er war gleich elf Monate aus dem Verkehr gezogen“, weiß Boris Brand.

Depressionen / Psychologische Betreuung

Dass der Betroffene auch während dieser langen Zeit extreme Ruhe braucht, ist für den gebürtigen Sontheimer der Grund für oftmals auftretende Depressionen:

„Für einen Leistungssportler, der sein Leben lang darauf getrimmt wurde, mehr zu trainieren, schneller fit zu werden usw. und der dann plötzlich nichts mehr machen darf, bricht eine Welt zusammen. Ich habe schon oft Aussagen gehört wie ‚Ich hätte mir dreimal lieber das Kreuzband gerissen, da hätte man wenigstens gesehen, dass ich was habe, und ich wüsste genau, wann ich wieder fit bin‘. Auch für das Umfeld ist es oft schwer zu verstehen, wie es dem Betroffenen geht. Die Ehefrau hat einen durchtrainierten Sportler geheiratet und hat plötzlich einen Invaliden zuhause – ein Wrack, das nicht mal mehr mit den Kindern spielen kann. Die Frau wird unzufrieden, die Kinder werden unzufrieden und der Betroffene fühlt sich nutzlos und läuft Gefahr depressiv zu werden. Bei Profisportlern spielen dabei ja auch noch Existenzängste eine große Rolle, denn eine solche Verletzung kann unter Umständen sogar die Berufsunfähigkeit bedeuten.“

Deshalb sei es besonders wichtig, dass Sportler in solchen persönlichen Extremsituationen psychologisch betreut werden.

„Sie müssen wissen, dass da jemand ist, der sie versteht und der sich um sie kümmert“, so Boris Brand. „Deshalb haben wir vor einiger Zeit die Gesellschaft für Sport-Neuropsychologie gegründet, deren Mitglieder Diplom-Psychologen, Neuropsychologen und Sportpsychologen sind, die allesamt in der Prävention, Diagnostik und Therapie von Gehirnverletzungen bei Profi- und Amateur-Sportlern tätig sind. Richard Gelke wurde während seiner siebenmonatigen Zwangspause über diese Gesellschaft beispielsweise von dem Bietigheimer Neuropsychologen Dr. Wolfgang Kringler betreut.“

Aufklärungsarbeit

Dr. Boris Brand hat sich auf die Fahnen geschrieben, in Deutschland die Aufklärungsarbeit nach vorne zu treiben – vor allem deshalb, weil er über den Weltverband mitbekommt, wie weit die Aufklärungsarbeit in den USA und Kanada schon fortgeschritten ist.

„Als ich anfangs deshalb durch Deutschland getingelt bin, bin ich auf viel Ablehnung gestoßen“, so der Sportmediziner, der als aktiver Sportler im Trikot der damaligen TG Heilbronn einmal süddeutscher Meister im 800-Meter-Lauf war. „Die Trainer meinten, jetzt kommt einer, der nimmt uns unsere Spieler weg. Erst langsam fand dann ein Umdenken statt und sie erkannten, dass es besser ist einen betroffenen Sportler für zwei Wochen aus dem Verkehr zu ziehen als dann später einige Monate auf ihn verzichten zu müssen.“

Wert legt er dabei auf die Feststellung, dass Gehirnerschütterungen nicht nur im Sport vorkommen, sondern auch im Alltag – wo sie dann oft gar nicht erkannt werden. Ein Gespräch ist ihm dabei besonders in Erinnerung geblieben: „Im Rahmen meiner Aufklärungsarbeit hatte ich eine Veranstaltung des brandenburgischen Orthopäden-Verbandes besucht. Nach meinem Vortrag kam eine Ärztin zu mir, die mir von einem Kind berichtete, dass von der Schaukel gefallen war und vermeintlich keinen gesundheitlichen Schaden davon getragen hatte. Ab diesem Zeitpunkt waren dessen schulische Leistungen aber plötzlich abgesackt und die Handschrift hatte sich drastisch verschlechtert. Ein Dreivierteljahr später war dann ebenso plötzlich wieder alles normal. ‚Jetzt ist mir alles klar, das Kind hatte eine Gehirnerschütterung‘, sagte sie mir.“