Gastkommentar: WADA begnadigt Russische Anti-Doping-Agentur

Ende September 2018 hat die Welt-Anti-Doping-Agentur WADA trotz weltweiter Proteste die russische Agentur RUSADA nach dreijähriger Sperre unter Auflagen begnadigt. Damit ist die uneingeschränkte Rückkehr der Sportgroßmacht in den Weltsport geebnet. Allerdings muss Russland der WADA bis zum 30. Juni 2019 den Zugang zum Moskauer Analyselabor und den dortigen Doping-Daten und -Proben ermöglichen. Führung erfordere „Flexibilität“ und eine „nuancierte Interpretation“ der Zulassungskriterien, „um die Sache zu einem Ende zu bringen“, agrumentierte die WADA und erntete dafür weltweit scharfe Kritik und strikte Ablehnung bei Athleten, Verbänden, vielen nationalen Anti-Doping-Agenturen und in der Sportpolitik.

Autor: Holger Kühner

Die Olympischen Spiele waren noch nie unpolitisch. Berlin 1936 im grellen Scheinwerferlicht der nationalsozialistischen Diktatur ist nur das bekannteste und erschreckendste Beispiel. 1968, wenige Tage vor Beginn der Olympischen Spiele in Mexiko schlug die militärische Spezialeinheit „Batallón Olimpia“ Studentenproteste mit brutaler Gewalt nieder. Kurz nach dem „Massaker von Tlateloco“ begrüßte IOC-Präsident Avery Brundage in Mexiko City zur „Olympiade des Friedens“. Derselbe Brundage, der vier Jahre später in München die ewige Schlagzeile „the Games must go on“ prägte. Elf israelische Geiseln und ein deutscher Polizist. Tot. Sei’s drum. The show must go on. Wacker hält sich die These, der amerikanische Fernsehsender ABC habe Brundage gedrängt, die Spiele nicht abzubrechen, weil bereits alle Werbespots im Rahmen der Olympischen Berichterstattung verkauft seien. Das hätte ein finanzielles Desaster gegeben.

Heute drängt sich die Frage auf: Wer ist von wem abhängig im Zusammenspiel der Welt Anti Doping Agentur WADA, dem Internationalen Olympischen Komitee und der Sportnation Russland?

Warum hat sich das IOC nicht getraut, Russland von der Teilnahme an den Sommerspielen in Rio 2016 und den Winterspielen 2018 in PyeongChang auszuschließen? Russland hat die Olympische Welt angegriffen, mit Waffen, die Sportler verletzen. Doping. Hunderte saubere Sportler wurden um den Sieg gebracht. Um den „One moment in time“, den Whitney Houston als Siegeshymne für die Olympischen Spiele 1988 besang.

Der Viertplatzierte zweifelt an sich, nicht das Beste gegeben zu haben. Er fährt als Verlierer nach Hause, ohne Medaille. Ohne den überwältigenden Moment der Siegerehrung, wenn für ihn die Nationalhymne gespielt wird, die Flagge gehisst wird. Er steht daneben und sieht, wie andere diesen „One moment in time“ genießen, wie potentielle Sponsoren schon recherchieren, wie sie diesen Olympiasieger für sich werben lassen können. Nichts da! Wenn vier Jahre später rauskommt, dass der Sieger gedopt war, dann hat er oder sie nicht nur diesen Moment gestohlen, sondern auch Anerkennung und Ansehen. Die Motivation kaputt, die weitere Karriere zerstört.

Russland hat massenhaft betrogen, falsche Sieger produziert. Mit Unterstützung der Politik. Sei’s drum. Ist halt so, dass Sport und Politik in Russland nicht zu trennen sind. Alexander Schukow kann da schon mal Chef des Nationalen Olympischen Komitees sein (2010-2018), dazu Duma-Abgeordneter und stellvertretender Parlamentspräsident. Der ehemalige Sportminister Vitaly Mutko, Drahtzieher im russischen Dopingsystem, war und ist wieder Präsident des russischen Fußballverbandes.

Das IOC kann hart durchgreifen, wenn sich Regierungen in Sportangelegenheiten einmischen. In der jüngeren Vergangenheit waren Kuwait und Indien suspendiert. Länger zurück liegt der Ausschluss Südafrikas. Erst nach Überwindung der Apartheid durften südafrikanische Sportler 1996 wieder mitmachen. Allein deshalb hätte man Russland längst suspendieren können – damit sich was ändert. So mächtig könnte der Sport sein.

Doch das IOC ist milde geworden. Das ist einerseits gut, denn die Sippenhaft sollte für einzelne Sportler nicht gelten, deren Länder Regeln gebrochen habe. Dafür gibt es nun die „Independent Olympic Athletes“, die unter der Olympischen Flagge starten.

Die Milde im Fall Russland ist dagegen schwer nachvollziehbar. Weil es für die Drahtzieher und Betrüger keine wirkliche Strafe gab. Es geht nicht um Einzelfälle, seit 2011 sollen mehr als 1.000 Sportler vom Doping-System gesäubert und damit gefördert worden sein. Falsche Sieger.

Selbst als mit dem McLaren-Bericht im Juli 2016 erdrückende Beweise vorlagen, entschied das IOC zwar die russische Mannschaft auszuschließen, aber einzelne Sportler in Rio starten zu lassen. Einzelne! 271 Sportlerinnen und Sportler starteten für Russland. Der Leichtathletik-Weltverband blieb hart und sperrte alle Athleten.

Und noch eine fehlte. Julia Stepanova. Die Leichtathletin gilt heute als die Whistleblowerin, die den Skandal öffentlich machte. Positiv getestet, hätte sie ein Schweigegeld bezahlen sollen. Stepanova lebt heute inkognito in den USA. In Rio, so befand das IOC, könne sie als Dopingsünderin nicht starten. Ein Skandal. Auch Grigori Rodschenkow, Ex-Chef des Dopingkontroll-Labors in Moskau und Organisator der Manipulationen, lebt in den USA – im Zeugenschutzprogramm.

Bei den Winterspielen in PyeongChang war Russland suspendiert, durfte aber als „Olympic Athletes from Russia“, als OAR-Team mitmachen und schon zur Schlussfeier wieder mit eigenen Trikots und eigener Flagge durch‘s Stadion stolzieren. Rehabilitiert nach nur acht Wochen. Respekt!

Das alles sollte man als Puzzleteilchen auf den Tisch legen, wenn man den „Deal“ studiert, den die WADA mit den Russen schloss. Die dürfen wieder mitmachen, wenn sie nicht den umfangreichen Untersuchungsbericht der WADA akzeptieren, den der kanadische Jurist Richard McLaren veröffentlichte, sondern den kleineren, den das IOC in Auftrag gegeben hatte.

Und sie haben Zeit bis Juni 2019 ihre Dopingarchive zu öffnen. Damit hat man den Russen eine Brücke gebaut. Diplomatisch ist das sinnvoll. Dem Weltsport hat die WADA damit einen Bärendienst erwiesen. Die Betrüger haben gewonnen. Und der Brückenbau könnte noch mehr Gräben aufreißen.