Entdecker, Förderer, Coach, Freund: Günter Major hört als Trainer auf

Günter Major macht Schluss. Nicht so ganz, aber irgendwie doch. Nach über 40 Jahren als Fußballlehrer steht er nicht mehr als Trainer auf dem Platz und verlässt den Heilbronner DFB-Stützpunkt, bleibt dem Sport aber dennoch als Nachwuchsscout der TSG Hoffenheim erhalten. Bei seiner Verabschiedung durch langjährige Weggefährten im Sommer packte der 67-Jährige einige spannende Anekdoten aus, die der Öffentlichkeit eigentlich nicht verborgen bleiben dürfen. Deshalb haben wir die bescheidene Trainerlegende nochmal zuhause in Heilbronn-Sontheim besucht, haben gemeinsam mit ihm in der Vergangenheit geschwelgt und hätten ihm noch viele weitere Stunden bei seinen Erzählungen zuhören können. Fotos: Marcel Tschamke

Autor: Ralf Scherlinzky

2. November 2020

„Ralf war früher ein verrückter Hund, der einen Witz nach dem anderen gerissen hat. Ich habe mit ihm den Trainerschein gemacht und wir waren zusammen auf dem Zimmer. Bei der Prüfung mussten wir ins Mündliche. Sein Thema war das 4-2-4 System. Er hat die Tafel mit so vielen Pfeilen vollgeknallt, dass keiner mehr durchblickte. Die Prüfer fanden das super und haben ihm die Note 1,0 gegeben. Danach kam er breit grinsend her und sagte ‚Major, die haben keine Ahnung!‘ Später wollte er mich als Co-Trainer zu Hannover 96 holen. Als ich wegen Familie und Beruf in Heilbronn bleiben wollte, wurde Mirko Slomka Co-Trainer. Heute sind wir immer noch in Kontakt und telefonieren regelmäßig.“

„Schickimicki ist nichts für mich. Ich esse lieber Bratwurst“, sagt Günter Major, wenn er über die Versuche seines Zöglings Ermin Bicakcic berichtet, ihn in den VIP-Raum von 1899 Hoffenheim einzuladen. Diese Bescheidenheit wurde ihm in frühester Kindheit in die Wiege gelegt. Mit zwei Jahren mit seiner Familie aus der damaligen Tschechoslowakei geflüchtet, wuchs der kleine Günter im Baracken-Flüchtlingslager in Weinsberg auf. Durch den Beruf seines Vaters als Schneidermeister, das Kunstturntalent seines Bruders sowie sein eigenes auf dem Fußballplatz stieg das Ansehen der Familie im Laufe der Zeit und sie konnte der Armut des Lagers entkommen.

Trotz des fußballerischen Talents war dem jungen Günter Major jedoch keine lange Spielerkarriere vergönnt. Nachdem er Torschützenkönig der zweiten Mannschaft des VfR Heilbronn wurde, wechselte er zum Lokalrivalen Union Böckingen, wo er sich seinen ersten Kreuzbandriss zuzog. Dann folgte kurz nach dem Wechsel in die erste Amateurliga zu Germania Bietigheim die nächste schwere Verletzung. „Ich bin bei Regenwetter gleich mit zwei Gegnern zusammengerasselt. Alle Bänder waren ab, das Sprunggelenk war gebrochen das Schienbein angebrochen – und ich habe eineinhalb Jahre gebraucht, ehe ich wieder richtig laufen konnte“, erinnert er sich. Doch Günter Major kämpfte sich zurück auf den Fußballplatz, wechselte zum VfR Heilbronn in die Oberliga und machte in den ersten drei Spielen gleich drei Tore. „Dann ist mir wieder einer ins gleiche Knie reingefahren. Das war es dann. Mit 25 Jahren hatte ich meinen dritten Kreuzbandriss und musste aufhören“, blickt er ohne große Wehmut zurück.

Als inzwischen verheirateter Familienvater schult er vom Werkzeugmacher zum Verwaltungsfachangestellten im Kreiswehrersatzamt und vom Spieler zum Trainer um.

Aus seiner zweiten sportlichen Laufbahn an der Seitenlinie wurmt ihn auch heute noch seine erste Entlassung beim VfR Heilbronn. „Erst hieß es an Weihnachten, dass mein Vertrag vorzeitig verlängert wird, dann folgte im neuen Jahr die Entlassung. Das hat weh getan. Ich hatte ein tolles Team mit guten Jungs wie den Maric-Brüdern, der Verein wollte dann aber plötzlich nicht mehr den Weg mit der Entwicklung der eigenen Nachwuchsspieler gehen, sondern änderte seine Strategie in Richtung schneller Erfolg“, erzählt er. Überhaupt wurde aus der Beziehung zu „seinem“ VfR im Lauf der Jahre eine Art Hassliebe.

Als er erfolgreich den SGV Freiberg coachte („Die wollten unbedingt, dass ich weitermache.“) und ihn ein Hilferuf aus der Heilbronner Badstraße erreichte, brach er seine Zelte in Freiberg ab, ging zum VfR zurück, nur um in der Winterpause erneut entlassen zu werden.

Mit einem Funkeln in den Augen erzählt Günter Major die Geschichte eines Auswärtsspiels im Heilbronner Frankenstadion, als er den FC Lauda trainierte. „Lauda war damals Letzter in der Oberliga, der VfR Tabellenführer, und wir haben uns zu einem 0:0 gemauert. Meine Aufstellung hatte mit Fußball nicht wirkich was zu tun. Vorne stand Martin Lanig drin, hinten hatten wir eine doppelte 5er-Mauer mit ein paar Naturburschen, die ordentlich abgeräumt haben. Die Zuschauer haben getobt. ‚Stell dich doch mit deiner Mauer noch hinters Tor, du Blinder‘ – das war noch das Harmloseste, was ich zu hören bekam. Bei der Pressekonferenz danach wurde ich auch nochmal verbal angegangen und habe mich dann zu der Aussage hinreißen lassen, dass der VfR aufpassen muss, dass er nicht noch absteigt. Da war vielleicht was los! Die sind mir fast an die Gurgel gegangen – und wisst ihr was? Am Ende der Saison sind sie tatsächlich abgestiegen.“

Die Genugtuung währte jedoch nicht lange. „Dazu war ich viel zu sehr Schwarz-Weißer. Das war mein Verein“, lächelt er. Zumal er in Diensten des VfR Heilbronn am 10. Oktober 1992 auch sein größtes sportliches Highlight erlebte. „Wir haben vor über 7.000 Zuschauern im DFB-Pokal gegen Bayer Leverkusen gespielt. Bis zur 56. Minute waren wir dem 1:0 näher als die, am Ende haben wir dann aber doch 0:2 verloren. Aber dieses Spiel war trotzdem einer meiner persönlichen Höhepunkte.“

1999 sagte er dann nach 21 Jahren dem Vereinsfußball adieu und folgte dem Ruf des ehemaligen Bundesligatrainers Dietrich Weise, der in ganz Deutschland für den DFB Stützpunkte für die Nachwuchsförderung einrichtete. Erst trainierte er drei Jahre lang die Hohenloher Toptalente, dann übernahm er 2002 den Heilbronner Stützpunkt, den er nun, nach 18 Jahren, in jüngere Hände an seine Nachfolgerin Victoria Mahmoud übergab.

Eine Geschichte hatte Günter Major für unsere Redakteure Ralf Scherlinzky und Enny Bayer noch parat, die wir unseren Lesern in keinem Fall vorenthalten dürfen:

„Als ich 14 Jahre alt war, hat mich unser VfR-Jugendleiter zu einem Jonglierwettbewerb angemeldet, der von Adidas und dem Kicker veranstaltet wurde. Beim ersten Auftritt habe ich den Ball 3.000 mal jongliert, bei den darauf folgenden Baden-Württembergischen Meisterschaften 6.000 mal und bei den Süddeutschen gleich 12.000 mal. Darauf wurde ich zur Deutschen Meisterschaft auf Schalke angemeldet, wo ich den Ball 27.000 mal jonglierte. Ich hätte darauf mit der Nationalmannschaft zur Weltmeisterschaft nach Mexiko fliegen dürfen – hätte nicht mein Vater sein Veto eingelegt. Meine Noten bei der Werkzeugmacher-Ausbildung bei Audi waren zuvor von 2,2 auf 3,3 abgefallen und meine Übernahme nach der Ausbildung war in Gefahr. Als Trostpflaster wurde mir von der Fachzeitschrift Kicker ein Besuch bei Uwe Seeler angeboten. Ich bin nach Hamburg geflogen und Uwe holte mich als 15-jährigen Fan im weißen Mercedes vom Flughafen ab. Er nahm mich mit zu sich nach Hause, wo ich mit ihm, seiner Frau und seinen drei Töchtern gegessen habe. Eine davon war so alt wie ich, und sein Mitspieler Charly Dörfel hatte danach beim Training schon gemutmaßt, dass ich Uwes künftiger Schwiegersohn sei. Der Hamburger SV hielt vor seinem Heimspiel gegen Bayern München noch ein Trainingslager ab, bei dem ich nicht nur dabei war, sondern auch bei Uwe Seeler im Zimmer übernachten durfte. Heute wäre sowas undenkbar. Vor dem Spiel nahm er mich in die Kabine der Bayern, die alle – u.a. Frank Beckenbauer, Gerd Müller, Trainer Udo Lattek – im Kicker über mich gelesen hatten und mich mit Handschlag begrüßten. In der Halbzeit bin ich dann im vollbesetzten Volksparkstadion als Fußball-Jongleur aufgetreten und die Leute waren begeistert. Was für ein Erlebnis!“

… über Tomi Maric:

„In einem VfR-Heimspiel gegen Aalen lagen wir zur Halbzeit 0:2 zurück und ich habe mich entschieden, den 17-jährigen Tomi Maric aus der A-Jugend einzuwechseln. Die Zuschauer haben mich nach Strich und Faden beleidigt, wie ich bei so einem Stand einen 17-Jährigen bringen kann. Ich sagte zu Tomi, mach da vorne, was du willst – Hauptsache du haust die Dinger rein. Tomi machte zwei Tore und wir gewannen das Spiel noch 3:2. Das war der Anfang einer Karriere, die ihn über Wolfsburg und Gladbach bis ins kroatische Nationalteam geführt hat.“

… über Hansi Flick:

„Hansi habe ich kennengelernt, als er damals Trainer in Bammental war. Seither sind wir sehr freundschaftlich verbunden. Er ist ein ganz angenehmer, bodenständiger Mensch. Dass Hansi mit den Bayern neulich 1:4 in Hoffenheim verloren hat, hat mir für ihn leid getan.“

… über Ermin Bičakčić:

„Ermin habe ich als 11-jähriges Flüchtlingskind damals in Möckmühl entdeckt. Meine Trainerkollegen konnten nicht verstehen, was ich in ihm sehe. Als er später mit der bosnischen Nationalmannschaft bei der WM in Brasilien war, hat er mich von dort angerufen. Das hat mich riesig gefreut. Neulich hat er mir ein Paket mit einem Trikot und einer persönlichen Widmung für seinen ‚Förderer, Freund und lieben Menschen Günter Major‘ geschickt. Das hat mich sehr gerührt. Ermin schafft es nicht mich zu duzen. Er möchte aus Respekt weiter ‚Herr Major‘ zu mir sagen.“

… über Martin Lanig: 

„Als ich Trainer in Lauda war und wir mitten im Abstiegskampf steckten, habe ich den 17-jährigen Martin Lanig gegen den Willen seines Trainers aus der A-Jugend nach oben gezogen. Er war kopfballstark, schlug gute Flanken, hat die wichtigsten Tore gemacht und uns damit letztendlich zum Klassenerhalt verholfen. Nach der Saison habe ich Hansi Flick, der damals Trainer in Hoffenheim in der Regionalliga war, auf Martin aufmerksam gemacht. Er war nicht überzeugt von ihm, hat aber meinem Urteil vertraut und ihn geholt – der Anfang von Martins Karriere. Ohne seinen Kreuzbandriss in Diensten des VfB Stuttgart hätte Martin es zum Nationalspieler gebracht, da bin ich ganz sicher.“

Lieber Günter, wir wünschen dir eine schöne Zeit als Trainer im Ruhestand und sind uns sicher, dass du als Nachwuchsscout der TSG Hoffenheim vielen jungen Talenten den Weg zu genauso tollen Erlebnissen ebnen wirst, wie du sie in deiner Karriere hattest.