Drei Deutsche Meisterinnen über Erwartungsdruck und zitternde Knie

Natalie Rothenbächer, Lena Staiger und Laura Raquel Müller kommen aus komplett unterschiedlichen Sportarten und haben doch eines gemeinsam: Alle drei wurden 2021 Deutsche Meisterinnen. Während Laura Raquel Müller ihre beiden U18-Titel vom Vorjahr verteidigte, standen Natalie Rothenbächer und Lena Staiger nach ihren Vizemeisterschaften des Vorjahrs erstmals auf dem Treppchen ganz oben. Wir haben uns mit den drei sympathischen Sportlerinnen im Studio unseres Fotografen Philipp Föll zum Fotoshooting getroffen. Das Interview im Anschluss entwickelte sich schnell zu einer angeregten Diskussion über hohen Erwartungsdruck, zitternde Knie und Mentalcoaching – und die drei stellten fest, dass sie weit mehr gemeinsam haben als ihre deutschen Meistertitel.

Autor: Ralf Scherlinzky

18. November 2021

Nathalie Rothenbächer
Nach der Vizemeisterschaft 2020 wurde die Rollkunstläuferin des REV Heilbronn im August 2021 zum ersten Mal Deutsche Meisterin in der Meisterklasse. Im Oktober folgte für die 20-jährige Studentin das nächste Highlight: Der Start bei der WM in Asuncion/Paraguay, bei der sie den 14. Platz belegte.

Laura Raquel Müller 
2020 holte die 17-Jährige von der Unterländer LG erstmals die Deutschen U18-Meistertitel im Weitsprung und über 100 Meter. 2021 verteidigte sie beide Titel, ehe sie bei der U20-EM in Tallinn/Estland nur um einen Zentimeter an Bronze vorbeisprang. Mit ihrer Bestweite von 6,50 m war die Gymnasiastin 2021 Weltranglisten-Erste der U18.

Lena Staiger
Nach den Vizemeisterschaften 2019 und 2020 wurde Lena Staiger vom Erlenbacher Verein Kime Budosport im September 2021 zum ersten Mal Deutsche Meisterin in der Karate Disziplin Kata. Seit 2021 arbeitet die 25-Jährige beim Herausgeber des SPORTHEILBRONNMagazins und ist damit fester Bestandteil unserer Redaktion.

Laura, du wurdest 2020 in Heilbronn Deutsche U18-Meisterin im Weitsprung und im 100-Meter-Lauf und hast es 2021 geschafft, beide Titel zu verteidigen. Hatte die Titelverteidigung für dich den gleichen Stellenwert wie die Premiere 2020?
Laura Raquel Müller: Absolut! Natürlich habe ich mir als Ziel gesetzt, die Titel zu verteidigen, aber es wird nicht einfacher, nur weil man im Vorjahr schon mal Erste war. Den Weitsprung konnte ich mit einer neuen persönlichen Bestleistung tatsächlich deutlich gewinnen, aber im 100-Meter-Lauf wurde es haarig. Da haben durch den Weitsprung vom Vortag ordentlich die Oberschenkel gebrannt, und wenn es noch zehn Meter weiter gegangen wäre, hätte mich die Zweite eingeholt.

Lena und Natalie, ihr seid dagegen zum ersten Mal in euren Sportarten Deutsche Meisterinnen geworden. Wie groß war bei euch die Freude über den Titelgewinn?
Lena Staiger: Mit dem Meistertitel in der Disziplin Kata Einzel habe ich mir einen großen Traum erfüllt. Seit dem Jugendbereich war ich stets unter den Top Drei platziert. Nach so vielen Jahren und so vielen Finals ohne einen einzigen Titel wurde es jetzt endlich Zeit. Ich bin überglücklich, dass ich mich Deutsche Meisterin 2021 nennen kann.
Natalie Rothenbächer: Bei mir war die Freude über den Titelgewinn so riesig wie die Überraschung, dass es tatsächlich gereicht hat. Ich war am zweiten Wettbewerbstag nicht an meine Trainingsleistung rangekommen und hatte ein paar unsichere Sprünge. Hinterher habe ich im Livestream nochmal mein überraschtes Gesicht bei der Verkündung der Gesamtwertung gesehen. Der Titelgewinn hat mir die Tür geöffnet, damit ich dann im Oktober auch zur Weltmeisterschaft fahren durfte, die in Paraguay stattgefunden hat.

Bei der WM starten zu dürfen, war bestimmt eine tolle Erfahrung…
Natalie Rothenbächer:
Ja, absolut. Meine nationale Konkurrentin Sofie Hofferberth und ich sind ziemlich gute Freundinnen und wir haben uns gefreut, dass wir gemeinsam nach Paraguay fliegen konnten. Wir haben es in dem starken Feld zwar nicht geschafft, uns für die World Games zu qualifizieren, aber mit den Plätzen elf und 14 waren wir halbwegs zufrieden.

Laura, du durftest im Sommer ja dann als U18-Athletin bei der U20-Europameisterschaft in Estland für Deutschland starten und bist buchstäblich um Haaresbreite an einer Medaille vorbeigesprungen. Erzähl mal, du musst da ja durch ein Wechselbad der Gefühle gegangen sein.
Laura Raquel Müller:
Wenn du in einem internationalen Wettbewerb im Nationaltrikot dein Land repräsentierst, ist das schon nochmal ein anderes Feeling als bei einer Deutschen Meisterschaft. Ich hatte auch ordentlich Muffensausen, zumal ich eine der jüngsten Athletinnen war. Wir hatten in Tallinn ziemlich krasse Windverhältnisse, deshalb gab es große Weiten. Bei meinem letzten Versuch bin ich unglaubliche 6,61 Meter gesprungen und lag damit nur zwei Zentimeter hinter der Zweiten. Dann kommt nach mir noch meine Teamkollegin Mikaelle Assani, springt exakt einen Zentimeter weiter und schnappt mir mit dem letzten Sprung noch die Medaille weg. Da habe ich schon gedacht, hätte ich mich nur noch etwas weiter in den Sand gestreckt… Aber zumindest ist die Medaille im deutschen Team geblieben.

Bei den Deutschen Meisterschaften seid ihr ja alle drei als Favoritinnen in eure Wettbewerbe gegangen. Wie sehr seid ihr dabei unter Druck gestanden?
Lena Staiger:
Meine Konkurrentin Jasmin Jüttner, hinter der ich in den letzten beiden Jahren Zweite geworden war, ist bei den Olympischen Spielen in Tokio gestartet und hatte deshalb auf eine DM-Teilnahme verzichtet. Dadurch war ich die Nummer eins und wusste, jetzt muss ich den Titel gewinnen. Da ich meine Katas in den vergangenen Finalkämpfen grundsätzlich verhauen habe, war der Druck nicht nur von außen groß, ich habe mich damit auch selbst enorm unter Druck gesetzt.

Laura Raquel Müller: Ich habe in diesem Jahr zum ersten Mal richtig die Spannung um mich herum wahrgenommen. In der Presse wurde ich zur Favoritin gemacht. Das hat schon zu einer gewissen Anspannung geführt, denn ich wollte die Leute ja nicht enttäuschen. Und da ich unbedingt international starten wollte und die U18-EM zum zweiten Mal hintereinander ausgefallen war, hat es schon etwas mehr als sonst gekribbelt, als es in Richtung Quali für die U20-EM ging. Ich wusste, wenn ich beim Quali-Wettbewerb nicht abliefere, werde ich nicht mitgenommen.

Natalie Rothenbächer: Mir hatte es in diesem Jahr enorm geholfen, dass wir im Verein beim REV Heilbronn oft Wettbewerbe simuliert haben und ich auch sonst mehr Wettbewerbsroutine hatte. In den letzten Jahren bin ich vor der Meisterschaft nur wenig gelaufen, weshalb mir enorm die Knie gezittert hatten, sobald es um etwas ging. Was mir hilft: Ich sehe mich selbst nicht als Favoritin an, sondern schaue, dass ich alles einfach so mache wie im Training – da wird es dann schon klappen.
Lena Staiger: Genau das finde ich aber so schwierig. Bei mir war es immer so, dass ich im Training und beim Aufwärmen so richtig gut war. Sobald der Wettkampf dann begonnen hat, wollte ich es besonders gut machen und habe angefangen zu verkrampfen. Meist hat es bis ins Finale gereicht, und dann war die Leistung weg.
Laura Raquel Müller: Kennt ihr das auch, wenn einem direkt vor dem Wettkampf plötzlich die Leichtigkeit abhanden kommt? Ich erinnere mich an einen Wettkampf, bei dem die Bundestrainer mit verschränkten Armen auf der Tribüne gesessen waren. Das hat in das ganze Starterfeld eine ziemliche Spannung reingebracht. Ich bin direkt davor die Staffel gelaufen und hatte eigentlich genug damit zu tun, meinen Kopf von 100 Meter auf Weitsprung umzustellen. Meine ersten Versuche sind dann auch in die Hose gegangen. Wenn danach alle herkommen und fragen, „Was war denn mit dir los?“, oder „Warum machst du es so spannend?“ – da frag ich mich auch, ob das sein muss. Ich weiß selbst, dass der Wettkampf nicht so prickelnd war, da brauche ich das nicht auch noch …
Lena Staiger: Eine ähnliche Situation habe ich erst jetzt bei der Deutschen Meisterschaft wieder erlebt. Nach der zweiten Runde kam ein Kampfrichter zu mir her und meinte, „Na, die Runde war aber jetzt nicht so gut, oder? Hat dir die Power gefehlt?“ Da dachte ich auch, Junge, ich steh im Halbfinale, was willst du mir damit sagen?
Natalie Rothenbächer: Was ich genauso schlimm finde, ist das gut gemeinte „Du schaffst das schon“. Da denke ich mir auch, ihr tut gerade so, als sei ich noch das kleine Mädchen von früher, das dauernd hingefallen ist. Das erinnert mich alles an das fürsorgliche „Ach, ist doch nicht so schlimm“, das ich eigentlich hinter mir lassen möchte. Sowas vermittelt mir, dass ich Angst vor dem Wettbewerb haben müsste. Die Leute meinen es ja gut, aber ich muss aufpassen, dass das nicht genau das Gegenteil in mir auslöst.

Lena Staiger: Was mir in der Vorbereitung auf die DM sehr geholfen hat, war die Zusammenarbeit mit meinem Mentalcoach Frank Isola. Er hat mir geholfen, alte Erlebnisse aufzuarbeiten, die mich belastet haben – wie eben das verlorene Finale, in dem meine Leistung komplett eingebrochen war. Das hat bei der DM dann auch tatsächlich keine Rolle mehr in meinem Kopf gespielt. Spannend war auch, dass wir einen „Anker“ gesetzt haben für den Fall, dass ich irgendwie aus meinem Wettkampf-Flow komme – eine Bewegung, die ich mache, um wieder in den Flow zu kommen. Und genau diesen Anker habe ich dann gleich in zwei Situationen gebraucht. Einmal, als mich der Kampfrichter mit seinem Kommentar getriggert hat, und einmal, als sich der Bundestrainer für das Finale demonstrativ bei meiner Gegnerin platziert hat, um zu signalisieren, dass er lieber sie als Deutsche Meisterin sehen würde.
Laura Raquel Müller: Wie hat das dann konkret ausgesehen?
Lena Staiger: Ich habe mich kurz weggedreht, habe tief eingeatmet, alle Muskeln nochmal angespannt, und dann war ich wieder voll da. Ich glaube, wenn wir das Coaching nicht gemacht hätten, wäre es tatsächlich eng geworden. Das Zittern in den Knien, von dem Natalie vorhin gesprochen hat, hatte ich in der Vergangenheit auch. Diesmal war es aber nicht da und ich konnte alles aus mir rausholen.