Die Rolle der Sportpsychologie bei Sportverletzungen

Eine Sportverletzung ist eine unerwünschte Nebenwirkung des Sporttreibens. Laut Techniker Krankenkasse verletzen sich jährlich rund zwei Millionen Menschen beim Sport. Es darf vermutet werden, dass durch den höheren Anteil sportabstinenter Kinder und Jugendlicher während der Pandemie und eine dadurch verschlechterte Körperwahrnehmung die Verletzungsinzidenzen gerade im Schulsport ansteigen werden.

Autor: Prof. Dr. Dirk Schwarzer

13. August 2021

Prof. Dr. Dirk Schwarzer 

Studiengangsleiter BWL-Dienstleistungsmanagement / Sportmanagement an der DHBW Heilbronn. Sportpsychologische Beratung und Betreuung von Leistungs- und Spitzensportlern. Mitglied der Arbeitsgemeinschaft für Sportpsychologie in Deutschland (asp). Mietglied im Lehr-Team des Deutschen Tennisbundes e.V. Sportlicher Leiter beim Tennis-Weltranglistenturnier INTERSPORT Heilbronn-Open von 2005-2014.

In Sportarten wie Fußball, Handball oder dem alpinen Skifahren ist das Phänomen Sportverletzung (entstanden entweder durch Überlastungen oder Traumata; am häufigsten betroffen sind die unteren Extremitäten) eine fast alltägliche Begleiterscheinung, die auch aus sportpsychologischer Perspektive betrachtet werden kann. Vor allem dann, wenn die eigene wirtschaftliche Existenz bedroht ist, können Verletzungsereignisse bei Athletinnen und Athleten heftige Krisen auslösen.

Solche Krisen durchleben jedoch nicht nur Profisportler. Auch (über-)ambitionierte Freizeitsportler, deren Selbstwertgefühl, Identität und soziale Anerkennung fast ausschließlich von ihren sportlichen Leistungen abhängen, tun sich in verletzungserzwungenen Trainings- und Wettkampfpausen oft schwer, Sinn in außersportlichen Feldern zu finden. Der Alltag hat seinen Rhythmus verloren, die Lebensbalance ist durch das fehlende, bislang haltgebende Training plötzlich ins Wanken geraten. Negative psychische Reaktionen wie Depressionen, erhöhte Ängstlichkeit, Grübeln, Gefühle von Ärger und Wut sowie ein schwaches Selbstbewusstsein sind Auswirkungen, die in Studien nachgewiesen wurden (Wiese-Bjørnstal et al. 1998). Auf physiologischer Ebene konnten erhöhte Werte von Stresshormonen festgestellt werden.

Die stärksten negativen Emotionen treten in aller Regel unmittelbar nach einer akuten Verletzung auf und lassen dann im Verlaufe der Rehabilitation – vor allem wenn sie erfolgreich verläuft – nach. Neben den negativen Folgen können in sehr seltenen Fällen auch positive Reaktionen festgestellt werden: Eine Verletzungszeit kann vorübergehend als Auszeit vom täglichen Leistungsdruck wahrgenommen werden, das gedankliche Durchspielen alternativer Lebensentwürfe für die nachsportliche Karriere wird nun möglich, gerade bei älteren Athletinnen und Athleten, die ihren Leistungszenit bereits überschritten haben. In Ausnahmefällen kann ein subjektiver Gewinn auch aus der stärkeren Aufmerksamkeit und Zuwendung aus dem persönlichen Umfeld resultieren (Hermann/Eberspächer 1994). Jedoch, um es nochmals zu betonen: Positive psychische Reaktionen auf Sportverletzungen sind die Ausnahme, nicht die Regel.

Wie schwer eine mentale Belastungsreaktion ausfällt, ist individuell unterschiedlich und hängt von vielen Faktoren ab. Vor allem Art und Schweregrad der Verletzung beeinflussen die emotionalen Zustände nach einer Verletzung. Zum Beispiel ist ein Kreuzbandriss mit Rehabilitationszeiten von ca. sechs bis 12 Monaten zumeist mit erheblichen mentalen Anpassungsleistungen verbunden. Ebenso das Alter, die Verletzungsvorerfahrungen, Persönlichkeitsmerkmale wie Optimismus und Selbstwirksamkeitserwartung oder der Saisonzeitpunkt beeinflussen die psychischen Auswirkungen der Athletinnen und Athleten nach Sportverletzungen. Wichtig ist darüber hinaus das soziale Umfeld, sowohl bei der Verletzungsprävention als auch bei der Bewältigung der Verletzungsfolgen. Es gibt Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen Verletzungsraten und dem Führungsstil von Trainerinnen und Trainern, auch die Kommunikation der medizinischen Abteilung mit dem Head Coach scheint relevant zu sein (Ekstrand et al. 2018 u. 2019).

Methoden der angewandten Sportpsychologie können Athletinnen und Athleten dabei helfen, eine emotional belastende Verletzungszeit „gut“ zu überstehen und – möglichst rasch, aber mit gebotener Vorsicht – zu voller Leistungsfähigkeit zurückzufinden. Unterschiedliche Ansätze ergeben sich in der Akutphase, der eigentlichen Rehabilitation, dem Trainingseinstieg und in der Wettkampfvorbereitungsphase.

Ein wichtiges Anliegen ist es, Sportlerinnen und Sportlern eine aktive Rolle zuzuweisen, in der das Gefühl entstehen kann, den Heilungsverlauf durch eigenes Zutun positiv beeinflussen zu können. Dies ist deshalb so wichtig, da man sich zunächst passiv den medizinischen Interventionen hingeben muss (Untersuchungen, Operation etc.), was häufig als Kontrollverlust empfunden wird.

Mit der Erfahrung, Verbesserungen ein Stück weit selbst in der Hand zu haben, steigt häufig auch der Glaube an eine baldige Genesung. Neben der psychologisch-emotionalen Begleitung verletzter Athletinnen und Athleten können bestimmte mentale Trainingsansätze eine unterstützende Rolle spielen:

  • Zielsetzung, Aufgabenverteilung und Selbstwirksamkeitstraining: Förderung der Bereitschaft der Athletinnen und Athleten zur aktiven Mitwirkung (Compliance) in der Rehabilitation. Stärkung der Selbstwirksamkeit: „Wieviel kann ich mir zutrauen, was kann ich schon leisten?“.
  • Entspannungs- und Akzeptanztraining zur Stärkung der Gelassenheit und Geduld, z.B. über das Training bewusster Atmung (slow-paced breathing).
  • Aufbau förderlicher Selbstgespräche (positive self-talk), indem sorgenvolles Grübeln gestoppt und durch das Einüben positiver Gedanken eine zuversichtliche Haltung gestärkt werden kann („Heute noch diese Übung, dann bin ich wieder einen kleinen Schritt weiter. Es geht aufwärts, ich werde den Anschluss schaffen“).
  • Vorstellungstraining, Imagination des Heilungsverlaufs (healing imagery). Bei diesem Verfahren stellt man sich den Heilungsverlauf gedanklich vor, z.B. wie ein Muskel im Verlauf der Reha allmählich stärker wird oder ein gerissenes Band wieder zusammenwächst. Auch in der Krebstherapie ist diese Intervention erprobt worden (etwa durch die Vorstellung über das Absterben von Krebszellen; Klein 2001). Allerdings müssen die Vorstellungen in gewissem Maße der Realität entsprechen, sie sollten zudem möglichst detailliert sein. Beim Eintritt in die Trainingsphase können auch Bewegungsvorstellungen gezielt trainiert werden (z.B. eine tiefe Kniebeuge zu machen oder einen Sprungwurf im Handball anzusetzen).

Sportpsychologische Verfahren haben sich in empirischen Studien als wirksam erwiesen. So ist bestätigt, dass – im Vergleich zu Kontrollgruppen, die lediglich die übliche medizinische/physiotherapeutische Behandlung erhalten – durch die zusätzliche Behandlung mit psycholo-gischen Verfahren signifikante Verbesserungen im Rehabilitationsprozess zu verzeichnen sind (Alfermann/Stoll 2010).

Bestenfalls gibt es eine enge Zusammenarbeit bei der Umsetzung medizinischer, physiotherapeutischer, psychologischer und athletischer Maßnahmen. Dieser ganzheitliche Ansatz orientiert sich an einem Menschenbild, das uns als bio-psychosoziale Wesen begreift. Wir sind mehr als nur der stoffliche Körper, Verletzungen sind auch mental und sozial relevant. Die Konsequenz aus dieser Sichtweise lässt sich treffend mit der Forderung der Autoren Weiss & Troxel (1986) unterstreichen: „Treat the person, not just the injury”.

Literaturtipps:

  • Hermann, H.-D./Eberspächer, H. (1994). Psychologisches Aufbautraining nach Sportverletzungen. München, BLV Verlag.
  • Heiss, Chr./Staufenbiel, K. (2019). Sportpsychologisches Verletzungsmanagement. In: Staufenbiel, K./Liesenfeld, M./Lobinger, B. (Hrsg.). Angewandte Sportpsychologie für den Leistungssport. Göttingen, Hogrefe Verlag, S. 292-306.
  • Seemüller, J. (2021). Am Limit – Wie Sportstars Krisen meistern. Mit einem Interview mit Valentin Z. Markser. Berlin, Heidelberg, Springer-Verlag.