Behindertensportgemeinschaft NSU plant Gründung eines Unified-Teams

Sie ist die gute Seele der Behindertensportgemeinschaft (BSG) Neckarsulm. Heike Acker setzt sich ehrenamtlich und leidenschaftlich für Menschen mit mentaler Beeinträchtigung ein, ist Vorsitzende, Trainerin, Therapeutin, Betreuerin, seelischer und rechtlicher Beistand sowie Fahrdienst und vieles mehr in Personalunion. Die Bezeichnung „Menschen mit geistiger Behinderung“ benutzt die 59-Jährige bewusst nicht – da hätte die Person gleich einen Stempel auf der Stirn. Wir haben mit ihr über den Verein, die Wettkämpfe der Sportler und die Probleme, die sie in der Inklusion von Menschen mit mentaler Beeinträchtigung sieht, gesprochen.

Fotos: Achim Gehrig

Autor: Lena Staiger

5. Mai 2021

Die BSG Neckarsulm wird in der Öffentlichkeit seit noch nicht allzu langer Zeit wahrgenommen. Wie wurde sie gegründet?

Heike Acker: Die BSG ist eigentlich schon vor über 60 Jahren aus dem Reha- und dem Kriegsversehrtensport entstanden. Ich selbst hatte vor gut 12 Jahren erst beim FSV Bad Friedrichshall eine Abteilung für Menschen mit mentaler Beeinträchtigung gegründet und dann ab 2016 gemeinsam mit sieben Fußballern den Sport bei der BSG sukzessive ausgebaut. Heute sind es schon 45 Fußballer. Dazu kommen noch die Sportler aus den Bereichen Basketball, Schwimmen, Kanu, Boccia und Eisstockschießen. Seit 2018 bin ich erste Vorsitzende der BSG.

Welche Aufgaben übernimmst du aktuell im Verein?

Heike Acker: Ich bin sozusagen das Mädchen für alles. Ich mache die Öffentlichkeitsarbeit, die Kasse, ich bin der Vorstand. Das Wort „nein“ kenne ich einfach nicht. Teilweise helfe ich auch Eltern beim Ausfüllen von Anträgen für ihre Kinder und leiste Eingliederungshilfe. Außerdem organisiere ich die Reisen und die Wettkämpfe, die wir mit unseren Sportlern machen. Ich bin also gut beschäftigt.

Was treibt dich dazu an, mit Menschen mit mentaler Beeinträchtigung Sport zu treiben?

Heike Acker: Menschen mit mentaler Beeinträchtigung sind ab einem gewissen Alter zum Teil sehr isoliert. Im Kindergarten und der Grundschule gibt es oft den Kontakt zu den „Normal-Behinderten“, wie ich sie nenne. Danach geht es auseinander und die meisten schaffen es nicht auf den ersten Arbeitsmarkt, sondern müssen zum Arbeiten in die Behindertenwerkstätten. Sport verbindet daher sehr. Eines meiner Ziele ist es zum Beispiel auch, eine Unified Mannschaft zu gründen. Dabei stehen Menschen mit und ohne Beeinträchtigung gemeinsam auf dem Feld und spielen Fußball. Diese Verbindung von Menschen mit und ohne Beeinträchtigung haben wir auch im Schneeschuhlaufen hervorragend geschafft. Bei den Deutschen Spielen für Menschen mit Beeinträchtigung haben sich zwei unserer Sportler für die Weltspiele nächstes Jahr in Russland qualifiziert. Für unsere Unified Mannschaften suchen wir immer neue Sportler, die Lust haben mitzumachen. Als Voraussetzung sollte man nur ein Verständnis für die Menschen mit mentaler Beeinträchtigung und allgemein ein offenes Herz mitbringen.

Im Moment habt ihr es ja durch Corona, wie andere Vereine auch, besonders schwer. Wie geht ihr damit um?

Heike Acker: Ja, das stimmt allerdings. Unsere Sportler verstehen teilweise nicht, warum wir nicht trainieren können und fragen ständig bei mir nach, wann es weitergeht. Das ist schon schwer, die aktuelle Situation zu erklären. Manche können ihre Wohnung alleine gar nicht verlassen. Letztens ist es einem Menschen mit Epilepsie passiert, dass er mitten in Neckarsulm einen Anfall bekam und durch die daraus folgende Verwirrung seinen Rucksack in der Fußgängerzone liegen ließ. Das Ergebnis war: Bombenalarm und 240 Euro Strafe. Um so etwas vorzubeugen, versuche ich im Moment, Menschen zu finden, die mit unseren Leuten eins-zu-eins laufen gehen. Das ist für viele die einzige Möglichkeit, aktuell vor die Türe zu kommen.

An dieser Stelle ein Aufruf an unsere Leser: Wenn ihr die BSG in dieser Hinsicht unterstützen möchtet, meldet euch bei unserer Redaktion unter info@winwinsport.de. Wir leiten eure Kontaktdaten gerne an Heike Acker weiter.

Welche Altersgruppen sind im Verein vertreten?

Heike Acker: Der Jüngste bei uns ist zwölf, der Älteste 47 Jahre alt. Das Schöne ist, dass sich alle Sportler hier sehr viel Selbstvertrauen holen. Wir sind eine richtige Familie und haben auch schon ganz verrückte Sachen gemeinsam erlebt. Einmal kamen meine Jungs beispielsweise auf mich zu und meinten, dass sie nach Ibiza wollen. Also habe ich gesagt okay, wir fliegen nach Ibiza. Wir waren dann zu zehnt dort, für viele war das der erste Urlaub ohne Eltern. Wenn ich gesagt habe ihr dürft losziehen, aber um neun Uhr seid ihr wieder da, dann war das so und jeder hat sich daran gehalten.

Du meintest, du hilfst teilweise auch bei der Eingliederung in die Arbeitswelt. Wo liegen dabei die größten Herausforderungen für dich und deine Sportler?

Heike Acker: Das, was mich bei diesem Thema am meisten stört, ist, dass man in unserer Gesellschaft immer auf den Schwächen rumhackt. Es heißt: „Oh du kannst nicht lesen? Dann müssen wir ganz schnell schauen, dass du lesen lernst!“ Das ist meiner Meinung nach der komplett falsche Ansatz. Statt zu schauen was ein Mensch nicht kann, muss man viel mehr seine Stärken hervorheben und diese fördern. Dann hat er auch eine Chance auf dem Arbeitsmarkt. Ich bin überzeugt, jeder kann etwas leisten. Und wenn es nur ist, in einer größeren Firma Briefe von A nach B zu bringen. Für ein Unternehmen hat es auch deutliche Vorteile, einen Menschen mit mentaler Beeinträchtigung einzustellen. Viele Menschen wollen sich selbst möglichst gut darstellen und gehen mit einer Ellbogenmentalität durchs Leben. Menschen mit Beeinträchtigung kennen diese Gedanken nicht. Das ist ein ganz anderes Miteinander. Gerade in den Alten- und Pflegeheimen könnten diese Menschen mit ihrer einfühlsamen und herzlichen Art helfen. Ich bin auch ständig auf der Suche nach passenden Stellen für meine Sportler. Die größten Hürden sind aber nach wie vor die Vorbehalte der „Normal-Behinderten“.

Was ist dein Wunsch für die Zukunft, was das Thema Inklusion und Behindertensport betrifft?

Heike Acker: Mein Herzenswunsch für die Jungs und Mädels ist es wirklich, dass jemand kommt und sagt: „Hier, ich habe einen Arbeitsplatz für dich“. Die Menschen mit Beeinträchtigung arbeiten in den Werkstätten 38 Stunden die Woche, einen Mindestlohn gibt es nicht. Der, der von uns am wenigsten verdient, bekommt gerade einmal 100 Euro im Monat, der, der am meisten verdient, 450 Euro. Und wenn ein junger Mensch nach ein paar Jahren das Glück hat, auf den ersten Arbeitsmarkt zu kommen, verfällt sein in der Werkstätte erworbener Anspruch auf eine frühe Verrentung. Das kann es wirklich nicht sein!

ÜBERRASCHUNG NACH DEM INTERVIEW

Damit hatte weder Heike Acker, noch die SPORTHEILBRONN-Redaktion gerechnet: Nach dem Gespräch überreichte Interview-Gastgeberin Stephanie Spohn in einem sehr emotionalen Moment einen Spendenscheck ihres Unternehmens Spohn Immobilien an Heike Acker und die BSG Neckarsulm. Herzlichen Dank für diese tolle Überraschung!