Behindertensport – Ein Stiefkind der Heilbronner Vereine?

Seit zwei Jahren verfolgt der Stadtverband für Sport mit dem sportheilbronn-Magazin die Heilbronner Sportszene. Zwei Jahre, in denen wir einen Großteil der Vereine kennenlernen durften und uns einen sehr guten Überblick über die Sportangebote in der Stadt machen konnten. Ein Thema mussten wir dabei jedoch fast mit der Lupe suchen: den Behindertensport – und dies, obwohl gut ein Zehntel der Bevölkerung als schwerbehindert gilt. Bei unserem ersten Kontakt mit dem Rollstuhlsportverein Heilbronn mussten wir dann erfahren, dass die aktive Beteiligung an den Sportangeboten immer weniger wird. In unserer sechsten Ausgabe berichtete uns die dreifache paralympische Juniorenweltmeisterin Annegret Schneider, dass sie einst erst nach längerer Suche einen Verein fand, der sie aufgenommen hat.
Dies hat uns nun zum Nachforschen veranlasst, woran es liegt, dass der Heilbronner Behindertensport in der Öffentlichkeit quasi nicht existent ist. Deshalb haben wir acht Persönlichkeiten zu einer Gesprächsrunde in den Sportpark 18-90 der TG Böckingen eingeladen, die alle aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit dem Thema Behindertensport Kontakt haben. Gemeinsam haben wir über zwei Stunden lang Ursachenforschung betrieben und gleichzeitig Ansätze ausgearbeitet, um den Sport für Menschen mit Handicap aus seinem Dornröschenschlaf zu wecken und nachhaltig zu fördern.

 

Autor: Ralf Scherlinzky

16. Januar 2018

„Grundsätzlich war immer Interesse da, wenn wir unseren Verein und den Rollstuhlsport bei Gelegenheiten wie ‚Heilbronn bewegt sich‘ präsentiert haben, aber die Leute sind dann trotzdem nicht zu uns gekommen“, berichtet Nicola Steinmetz, die Vorsitzende des RSV Heilbronn. „Rollstuhlbasketball gibt es leider nur noch auf dem Papier, und auch die Handbiker treffen sich nur noch sporadisch. Obwohl wir rund 100 Mitglieder haben, sind nur noch acht bis zehn davon in der Breitensportgruppe am Montagabend aktiv.“

Wie aber kann man Menschen, die im Rollstuhl sitzen, dazu motivieren, dass sie sich bei einem Verein sportlich betätigen? „Das Problem geht weit über die Motivation des Einzelnen hinaus“, weiß Wolfgang Heiler. Der Bezirksgruppenleiter des Blinden- und Sehbehindertenverbandes Baden-Württemberg macht vor allem die oftmals unzureichenden Verbindungen des Öffentlichen Nahverkehrs als zentrales Problem aus: „Auf 18 Uhr zum Sport zu fahren, ist dabei nicht das Thema. Problematisch wird dann aber die Rückfahrt. Je später der Abend, desto länger muss man warten bis der Bus oder die Stadtbahn kommt. Muss man dann auch noch umsteigen, ist man schnell mal ein paar Stunden unterwegs oder kommt gar nicht mehr nach Hause. Ohne eine zuverlässige Begleitperson ist es deshalb kaum möglich, am Abend noch Sport zu treiben. Außerdem bedeuten Begleitpersonen, Taxifahrten etc. oftmals einen zusätzlichen finanziellen Aufwand – ein weiteres Hindernis für die sportliche Betätigung.“

Auch für Carsten Hummel ist die Mobilität ein wichtiger Punkt. Der Vater eines Jungen mit Down-Syndrom spricht aus der Sicht von Menschen mit geistiger Behinderung und stellt fest, dass die meisten seiner Klienten Schwierigkeiten mit der Orientierung haben und mit der Komplexität des öffentlichen Nahverkehrs überfordert sind und deshalb ebenfalls auf ihre Eltern oder andere Personen als „Taxi“ angewiesen sind.

Das zentrale Thema der Gesprächsrunde spricht Carsten Hummel an, als er von seinem Sohn berichtet: „Er treibt super gerne Sport, kommt dabei aber oft an die Grenzen der Übungsleiter, die teilweise mit den unterschiedlichen Anforderungen der Kinder in ihrer Trainingsgruppe überfordert sind.“

Für Annegret Schneider sind die Trainer nicht unbedingt überfordert, sondern einfach nur unsicher im Umgang mit Teilnehmern mit Handicap. „Bei mir geht das noch. Ich kann in der Leichtathletik-Trainingsgruppe bei der TSG Heilbronn fast alles mitmachen und melde mich, wenn etwas nicht geht“, so die 17-jährige Leistungssportlerin, die mit einer halbseitigen Zerebralparese geboren wurde und zusätzlich auch noch einen steifen rechten Arm hat. „Ich wurde als Kind aber dennoch mal von einem Verein weggeschickt, weil sie nicht wussten, was sie mit mir im Training anfangen sollten.“

Dass hier zwischen Einzelsport und beispielsweise Gymnastikgruppen mit 15 Teilnehmern zu unterscheiden ist, bei denen drei oder vier Leute mit Behinderung dabei sind, gibt der Vorsitzende der TG Böckingen, Herbert Tabler zu bedenken. „Da verliert ein Übungsleiter schnell den Überblick, vor allem, wenn er nicht entsprechend geschult ist“, sagt der langjährige Heilbronner Stadtrat und erntet dabei die Zustimmung von Irina Richter. „Eine fundierte und praxisnahe Schulung für Trainer ist immens wichtig, um Berührungsängste von Anfang an abzubauen“, so die städtische Inklusionsbeauftragte, die anregt, ein Netzwerk für Trainer zum Erfahrungsaustausch einzurichten.

Uwe Kaiser, der gemeinsam mit Irina Richter das inklusive „Golfturnier mit Handicap“ in Talheim initiiert hat, würde sogar noch einen Schritt weitergehen und einen vereinsübergreifenden Trainer als Inklusionsbegleiter installieren, der andere Übungsleiter in den Umgang mit behinderten Sportlern einweist. „Das ist gar nicht unbedingt nötig“, kontert Carsten Hummel und macht den Heilbronner Sportvereinen ein attraktives Angebot: „Die Vereine können ihre Übungsleiter jederzeit bei den Offenen Hilfen zu einer kostenfreien Fortbildung anmelden. Diese findet immer am Samstagvormittag statt und umfasst neben dem Umgang mit Menschen mit Behinderung unter anderem ein Praxistraining im Rollstuhl sowie Informationen zu Themen wie Transportsicherung und logistische Maßnahmen.“

Dass die nötige Sozialkompetenz beim inklusiven Sport nicht nur von den Übungsleitern, sondern durchaus auch von den Teilnehmern selbst ausgeht, haben Irina Richter und Uwe Kaiser beim Golfturnier im Oktober festgestellt. „Wir haben Pärchen zusammengestellt, die jeweils aus einem erfahrenen Golfer und einem Partner mit Behinderung bestanden“, berichtet Irina Richter. „Das hat super geklappt und jeder Teilnehmer war sich seiner Verantwortung bewusst. Die anfänglichen Hürden wurden ganz unbürokratisch abgebaut und es sind sogar neue Freundschaften entstanden.“

Genau diese Vermittlung von Sozialkompetenz sei dabei die Aufgabe der Menschen mit Handicap, fügt Carsten Hummel hinzu und geht dabei auf die Erzählung von Wolfgang Heiler ein, dass die sehenden Teilnehmer seiner Wirbelsäulengymnastik-Gruppe dazu aufgefordert wurden während der Übungen die Augen zu schließen, um nachfühlen zu können „wo es bei mir klemmt“. „Da hat Herr Heiler die Gruppe Sozialkompetenz gelehrt. Dafür zahlen Firmen oft tausende Euro“, lacht Carsten Hummel.

Auch das exklusive Training – Sportler mit Handicap sind dort unter sich – hat laut Annegret Schneider durchaus Vorteile: „Im Trainingslager der Nationalmannschaft sind ausschließlich Sportler mit Einschränkung und alle können einschätzen, was alles möglich ist. Dort probiere ich immer wieder Dinge, die mir meine Trainerin daheim nicht zutraut und die ich noch nie gemacht habe. Und siehe da, sie funktionieren! Meine Heimtrainerin staunt da immer wieder und freut sich, dass wir diese Dinge dann auch in unser Training einfließen lassen können.“

Einen Grund für die geringe Zahl an behinderten Sportlern in Heilbronn macht die Gesprächsrunde am Thema Alter fest.

„Bei meinen Beratungen erlebe ich oft, dass aufgezeigte Perspektiven mit dem Hinweis ‚das macht meine Frau oder mein Mann‘ in den Wind geschlagen werden“, berichtet Wolfgang Heiler. „Stirbt dann der Partner oder man trennt sich, stehen sie als ältere Leute wieder auf der Matte, und dann ist es sehr schwierig, ein Angebot für sie zu finden, denn dann sind sie verwöhnt und haben Schwierigkeiten damit, auf fremde Leute angewiesen zu sein.“

Nicola Steinmetz führt dazu noch das Schulsystem an: „In den Grundschulen werden behinderte Kinder noch inkludiert, die nächste weiterführende Schule ist dann aber in Neckargemünd. Da kommen die Kinder abends nach Hause und haben keine Möglichkeit mehr zum Sport zu gehen.“

„Dort war ich auch“, pflichtet ihr Annegret Schneider bei. „Ich wurde morgens um halb sieben abgeholt und kam um halb sechs nach Hause. Das Vereinstraining hat um sechs begonnen, das habe ich meist nicht geschafft und habe stattdessen später mit meinen Eltern trainiert. Hätte ich damals nicht schon Leistungssport gemacht hätte, hätte ich mich nicht mehr motivieren können.“

Eine zusätzliche Hürde auf dem Weg zur Förderung des Behindertensports macht Monika Lochte vom Schul-, Kultur- und Sportamt aus: „Um Sportler mit Handicap zu inkludieren, müssen die Sportanlagen barrierefrei sein. Und das ist bei weitem nicht überall gegeben.“

Nächste Schritte

Alle Beteiligten der Gesprächsrunde waren sich einig, dass es möglich ist, an den Schwachpunkten anzusetzen, um dem Behindertensport in Heilbronn in Zukunft einen höheren Stellenwert zu geben. Im ersten Schritt soll eine Befragung der Heilbronner Vereine zu diesen Themen durchgeführt werden:

– Welche Sportanlagen sind barrierefrei?
– Welche Vereine haben eine gute Anbindung an den Öffentlichen Nahverkehr?
– Welche bestehenden Sportangebote eignen sich für Menschen mit Handicap?
– Welche Vereine arbeiten bereits mit Menschen mit Behinderung und haben entsprechende Erfahrungen gemacht?
– Welche Vereine sind Mitglied im WBRS (Württembergischer Behinderten- und Rehabilitationssportverband)?
– Welche Vereine möchten ihre Übungsleiter über das kostenlose Förderprogramm der Offenen Hilfen weiterbilden?

Parallel wird die Möglichkeit geprüft, eines der nächsten „Heilbronner Sportgespräche“ zum Thema Inklusion im Sport durchzuführen.

Ein Ziel der Arbeitsgruppe wird es sein, das inklusive Spiel- und Sportfest, das bislang jährlich in Flein stattgefunden hat (Nicola Steinmetz: „Ich war als Kind dort immer dabei, der Umgang mit behinderten Menschen war für mich deshalb immer ganz normal.“) und im Februar 2019 erstmals in der Heilbronner Mönchseehalle veranstaltet wird, um weitere sportliche Angebote zu erweitern.

Der Stadtverband bleibt mit dem sportheilbronn-Magazin an dem Thema „dran“. Gerne könnt ihr uns eine Mail mit euren Gedanken und Erfahrungen zum Thema Behindertensport an redaktion@sportheilbronn-magazin.de schicken.